Betrachtungstext: 1. Dezember – 2. Tag der Novene zur Unbefleckten Empfängnis

Die Armut von Bethlehem – Der Reichtum der Muttergottes – Der Wert eines jeden Menschen

AUF UNSEREM GANG durch die Seligpreisungen, den wir in dieser Novene zur Unbefleckten Empfängnis gemeinsam absolvieren, richten wir unseren Blick heute darauf, dass die Gottesmutter trotz ihrer Armut glücklich war. Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3). Jesus selbst wurde in Armut geboren. Gott hätte auch in einer wohlhabenden Familie in einer großen Stadt geboren werden können. Doch er wählte für seine Ankunft den Schoß einer einfachen Frau, der unbefleckten Jungfrau Maria, und ein kleines Dorf in Israel. Seine Geburt, wie der Evangelist Lukas schildert, war von äußerster Schlichtheit umgeben: Eine Frau sollte gebären, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war (Lk 2,6-7). Nur die müden und staunenden Hirten wurden Zeugen des Geschehens. Christus wünschte für sich, wie der heilige Josefmaria sagte, „nichts Besonderes, kein Privileg. Alles geschieht mit äußerster Natürlichkeit: von der Empfängnis bis zur Geburt (...) Der Herr wusste, wie hart sein Lebensweg werden sollte. Doch ihn hungerte danach, auf die Welt zu kommen, um alle Seelen zu retten.“1

Die Armut, die die Krippenszene umgibt, steht in starkem Kontrast zur Freude von Maria und Josef. Man würde meinen, dass es unter solchen Bedingungen schwierig ist, Glück zu empfinden. Doch das Paar hatte eine Freude entdeckt, die weniger auf vergänglichen Dingen beruhte als vielmehr auf dem Bewusstsein, sich in der Gegenwart Gottes zu befinden. Sie entdeckten die göttliche Liebe darüber hinaus in allem, was in jenen Tagen geschah – in der beschwerlichen Reise nach Bethlehem, im fehlenden Platz in der Herberge, in der Einfachheit der Krippe. Maria und Josef lebten eine Haltung, wie sie auch der heilige Paulus kannte: Ich habe gelernt, mich in jeder Lage zurechtzufinden: Ich weiß Entbehrungen zu ertragen, ich kann im Überfluss leben. In jedes und alles bin ich eingeweiht: in Sattsein und Hungern, Überfluss und Entbehrung. Alles vermag ich durch den, der mich stärkt (Phil 4,11-13).


IN BETHLEHEM erkennt Maria, dass ihr Leben – von den alltäglichsten Aufgaben bis hin zu ihrem tiefsten Glück – untrennbar mit Josef und Jesus verbunden ist. Dank Josefs Fürsorge konnte sie Jesus in dem bescheidenen Stall zur Welt bringen. Er gab ihr Halt und Sicherheit, sodass sie wieder zu Kräften kommen und darauf vertrauen konnte, in ihm einen verlässlichen Gefährten zu haben. Der wahre Reichtum, den Maria in diesem Moment besitzt, ist die Einsicht, dass sie die anderen braucht.

Gott nutzt die Menschen in unserem Umfeld, um uns in schwächeren Momenten beizustehen. Der Prälat des Opus Dei ermutigt uns, „das Leben als einen Weg der Zusammenarbeit zu sehen, auf dem wir uns gegenseitig stützen. Unglückliche Momente können sich als Chancen für das innere Wachstum und das persönliche sowie gemeinschaftliche Vorankommen erweisen: Sie zwingen uns, aus uns selbst herauszugehen und uns den anderen zu öffnen.“2 Maria fühlte sich in jedem Moment von Jesus und Josef unterstützt, und gleichzeitig fühlten sich diese von ihr unterstützt. So ist es im Leben eines jeden Menschen. Mag die Ungewissheit auch groß sein, immer können wir den anderen Zuneigung und Hoffnung vermitteln, und umgekehrt: Wir können Trost und Zuversicht bei Menschen finden, die uns lieben.

Diese gegenseitige Abhängigkeit ist keine Einschränkung, sondern eine der tiefsten Quellen irdischen Glücks. Papst Franziskus erklärt: „Freude ist nicht bloß ein flüchtiges Gefühl. Wahre Freude kommt nicht vom Besitzen, nein! Sie entsteht aus Begegnungen, aus Beziehungen: aus dem Gefühl, angenommen, verstanden und geliebt zu sein, und aus dem Annehmen, Verstehen und Lieben – nicht nur für einen Moment, sondern auf einer tiefen, personalen Ebene.“3 In Jesus und in seiner unbefleckten Mutter werden wir immer eine Liebe finden, die uns annimmt und versteht.


DIE ARMUT DES GEISTES, wie sie in den Seligpreisungen beschrieben wird, lehrt uns, den Wert jedes Menschen zu erkennen, selbst wenn er in seinen Eigenschaften oder seiner Lebensweise von uns abweicht. Die Würde eines Menschen liegt nicht in seinen Fähigkeiten oder Neigungen, sondern in der Tatsache, dass er von Gott geliebt wird und uns anvertraut ist. Papst Franziskus unterstreicht diese Wahrheit, indem er sagt: „Das Geheimnis des Lebens wurde uns durch die Art und Weise offenbart, wie der Gottessohn es gelebt hat: Er nahm Ablehnung, Schwäche, Armut und Schmerz auf sich, bis hin zum Kreuz. In jedem kranken Kind, in jedem gebrechlichen alten Menschen, in jedem verzweifelten Migranten, in jedem zerbrechlichen und bedrohten Leben sucht Christus nach uns. Er sucht unsere Herzen, um uns die Freude der Liebe zu offenbaren.“4

Indem wir andere so annehmen, wie sie sind – mit all ihren Stärken und Schwächen –, nehmen wir Christus selbst an. Maria, die Unbefleckte, macht es uns vor: Sie sieht in jedem Menschen das Antlitz Jesu, denn durch seinen Tod hat er uns von der Sünde erlöst. Als fürsorgliche Mutter ist Maria die Erste, die uns annimmt, mit einer Liebe, die jeden von uns als einzigartig und unendlich wertvoll erkennt. Der heilige Josefmaria drückt es so aus: Jede Seele ist ein herrlicher Schatz; jeder Mensch ist einzigartig und unersetzlich. Jeder Einzelne ist das ganze Blut Christi wert.“5


1 Hl. Josefmaria, Betrachtung, 31.12.1959.

2 Msgr. Fernando Ocáriz, Betrachtung, 11.5.2020.

3 Franziskus, Ansprache, 6.7.2013.

4 Franziskus, Audienz, 10.10.2018.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 80.