Betrachtungstext: 20. Dezember – Advent

Die Freude jeder Berufung – Gnade vor Gott finden – Den Herrn sein Werk an uns tun lassen

DER ERZENGEL Gabriel hat eine große Aufgabe vor sich. Es ist soweit. Gottes Blick ist auf ein Mädchen aus Nazareth gefallen, um die bewegte Geschichte der Rettung seiner Kinder zur Vollendung zu bringen. Der Bote grüßt diejenige, die voll der Gnade ist, und die gesamte Schöpfung hält den Atem an. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe (Lk 1,29). Zahlreiche Künstler haben unsere Mutter  in die Heilige Schrift vertieft dargestellt, als der Engel sie grüßte; und es ist wohl diese meditative Haltung, die Maria im ständigen Dialog mit Gott, in der steten Erwägung des Geschehens verweilen lässt, die das Gebetsleben ausmacht.

Im Gegensatz zu Maria fällt es uns oft schwer, die göttlichen Einladungen zu verstehen. Manchmal kommen wir vielleicht sogar auf den Gedanken, dass Gott uns etwas wegnehmen möchte, dass er von uns verlangt, die Freude in dieser Welt aufzugeben, um seinen Willen zu tun. Die Realität könnte nicht unterschiedlicher sein: Gott ist derjenige, der am meisten möchte, dass wir glücklich sind, dass wir voller Freude sind, dass wir seine unendliche Freude mit ihm teilen; einzig aus diesem Grund ist er bis zum Kreuz gegangen. Und nur unsere Freiheit ist in der Lage, seine Initiative zu stoppen. „Habt keine Angst vor Christus!“, warb Benedikt XVI. beim Antritt seines Petrusdienstes, „er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, erhält alles hundertfach zurück. Ja, öffnet Christus weit die Tore, und ihr werdet das wahre Leben finden.“1

Die Kirche stellt uns im Evangelium der heutigen Messe die Berufung unserer Mutter, der heiligen Maria, vor Augen, deren Geschichte der unseres eigenen Lebens sehr ähnlich ist. Jede Berufung ist eine Berufung zur Freude. So sagte der heilige Josefmaria: „Die Glückseligkeit des Himmels ist für diejenigen, die bereits hier auf Erden glücklich zu sein wissen.“2 Wenn der Herr uns um etwas bittet, macht er uns in Wirklichkeit ein Geschenk: Gott ist es, der unseren Weg erhellt, unser Leben mit Sinn erfüllt und ihm die größte Reichweite gibt.


FÜRCHTE DICH NICHT, Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden (Lk 1,30). Diese Worte des Engels enthüllen uns, auf welche Weise der Schöpfer sein herrlichstes Geschöpf betrachtet: Maria ist gewissermaßen Gottes Traum, sein Trost, seine Hoffnung. Die Vorstellung, Gott könnte uns auf dieselbe Weise betrachten, fällt uns schwer. Natürlich wissen wir, dass der Herr barmherzig ist und uns so oft wie nötig Gnade schenkt. Doch die Vorstellung, dass auch wir Gnade bei ihm gefunden haben und ihn beglücken können wie Maria, kann uns unerreichbar erscheinen. Und doch ist es so: Gott hat auch uns beim Namen gerufen, ohne dass wir dies verdienen mussten.

Papst Franziskus ging einmal näher darauf ein, was es mit der Berufungsgnade auf sich hat: „Schon die Formulierung der Worte des Engels lässt uns verstehen, dass die göttliche Gnade bleibend ist, nicht vorübergehend oder momentan, und deshalb nie fehlen wird. Auch in Zukunft wird uns die Gnade Gottes immer Halt geben, besonders in Zeiten der Prüfung und der Finsternis. Die fortwährende Gegenwart der göttlichen Gnade ermutigt uns, unsere Berufung, die von uns ein treues Bemühen verlangt, das jeden Tag erneuert werden muss, mit Zuversicht anzunehmen. Der Weg der Berufung ist in der Tat nicht frei von Kreuzen: nicht nur die anfänglichen Zweifel, sondern auch die häufigen Versuchungen, denen man auf dem Weg begegnet. Das Gefühl der Unzulänglichkeit begleitet den Jünger Christi bis zum Ende, aber er weiß, dass Gottes Gnade mit ihm ist.“

Und der Papst fuhr fort: „Die Worte des Engels gehen auf die menschlichen Ängsten ein und lösen diese kraft der in ihnen enthaltenen guten Nachricht auf: Unser Leben ist kein reiner Zufall und kein bloßer Überlebenskampf, sondern jeder von uns ist eine von Gott geliebte Geschichte. Gnade in seinen Augen gefunden zu haben, bedeutet, dass der Schöpfer die einzigartige Schönheit in unserem Sein wahrnimmt und einen außergewöhnlichen Plan für unser Leben hat. Dieses Bewusstsein löst sicherlich nicht alle Probleme und beseitigt auch nicht die Unsicherheiten des Lebens, aber es hat die Kraft, es in der Tiefe zu verwandeln. Was der nächste Tag uns bescheren wird und was wir noch nicht kennen, ist dann keine dunkle Bedrohung mehr, die es zu überleben gilt, sondern eine Gelegenheit, die uns gegeben ist, um die Einzigartigkeit unserer eigenen Berufung zu leben und sie mit unseren Brüdern und Schwestern in der Kirche und in der Welt zu teilen.3


VOR GOTT finden die einfachen Seelen Gnade, diejenigen, die sich lieben und zur größten Heiligkeit erheben lassen. Für einen Vater gibt es nichts Beglückenderes, als seine Kinder strahlen zu sehen. Mir geschehe, wie du es gesagt hast. Viele Jahre, bevor Maria diese Worte sprach und Gott seinen Bund mit dem auserwählten Volk schloss, verpflichtete sich Israel dazu, seinen Teil zu erfüllen: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun (Ex 24,3). Israel betonte sein eigenes Handeln, Maria lässt Gott wirken. Es ist ein großer Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen. Auch wenn das Letztere einfacher zu sein scheint, ist es oft umgekehrt. Wir neigen dazu, die Dinge unter unserer Kontrolle haben zu wollen; das, was unserer eigenen Wachsamkeit und Voraussicht entgeht, macht uns oft unruhig.

Der Advent ist eine Zeit der Freude, der Fröhlichkeit und des Friedens. Wir wissen, dass die Schwierigkeiten nicht verschwinden werden, aber dass wir gerettet sind, wenn wir lernen, zu Gottes Handeln Ja zu sagen. Papst Benedikt sagte einmal in einer Adventpredigt: „Maria lädt uns ein, ebenfalls dieses Ja auszusprechen, das manchmal so schwierig zu sein scheint. (...) Gottes Wille mag uns anfangs wie eine beinahe unerträgliche Last erscheinen, wie ein Joch, das zu tragen unmöglich ist. Aber in Wirklichkeit ist Gottes Wille keine Last, sondern verleiht uns Flügel, so dass wir hoch fliegen und es mit Maria auch selbst wagen können, Gott die Tür zu unserem Leben zu öffnen, die Türen zu dieser Welt, indem wir ja sagen zu seinem Willen.4

Ja zu sagen bedeutet, Gott zu bitten, dass sein Wille geschehe, es bedeutet, um die Gnade zu bitten, kein Hindernis für seine Pläne zu sein, das Wirken des Heiligen Geistes nicht zu behindern. Es ist nicht leicht, in unserem Herzen Raum für so viel Liebe zu schaffen. Die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, dass, wie Papst Franziskus sagte, „das Wichtigste nicht ist, ihn zu suchen, sondern zuzulassen, dass er mich sucht, dass er mich findet und mich umfängt. Das ist die Frage, die das Christuskind uns allein durch seine Gegenwart stellt: Lasse ich zu, dass Gott mich liebt?5 Wir danken Jesus und seiner gesegneten Mutter für unseren Weg der Heiligkeit; es ist ein Leben, das täglich von Glück übersät ist, von sehr alltäglichem und zugleich sehr göttlichem Glück.


1 Benedikt XVI., Homilie, 24.4.2005.

2 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 1005.

3 Franziskus, Botschaft zum 33. Weltjugendtag, 22.2.2018.

4 Benedikt XVI., Homilie, 18.12.2005.

5 Franziskus, Homilie, 24.12.2014.