BEIM GESPRÄCH zwischen Jesus und den Sadduzäern über die Auferstehung der Toten ist auch ein Schriftgelehrter anwesend. Als er sieht, wie treffend der Herr antwortet, nähert er sich ihm und fragt ihn:Welches Gebot ist das erste von allen? Christus antwortet sofort: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden (Mk 12, 29-31).
Auf den ersten Blick scheinen die Worte Jesu nicht neu zu sein, denn er zitiert das Schma Jisrael – „Höre Israel!“, das jeder Jude gut kennt und mehrmals am Tag wiederholt. Der Mensch soll Gott ganz und gar lieben: mit seiner ganzen Zuneigung, mit seinem ganzen Willen und mit der ganzen Bandbreite seiner Intelligenz. Wegen der Sünde fällt es uns jedoch schwer, unseren Herrn so zu lieben, und wir sind gelegentlich müde, in jeder Situation zu entscheiden, was das Beste ist. Der heilige Josefmaria macht uns bezüglich dieser Wahl, die wir ständig treffen, Mut: „Die Freiheit erhält ihren wirklichen Sinn erst dann, wenn sie im Dienst der erlösenden Wahrheit ausgeübt wird, wenn sie aufgeht im Verlangen nach der unendlichen Liebe Gottes, die die Fesseln jeder Knechtschaft von uns nimmt. Jeden Tag drängt es mich mehr, diesen unergründlichen Reichtum des Christen laut zu verkünden: die herrliche Freiheit der Kinder Gottes! (Röm 8,21). Darin besteht der gute Wille, der uns lehrt, das Gute zu tun, nachdem wir es vom Bösen unterschieden haben.“1
Auffallend an Jesu Antwort ist, dass er diese vollkommene Gottesliebe mit der Liebe zum Nächsten verbindet; ja, er geht sogar so weit zu sagen, dass an diesen beiden Geboten das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,40) hängt. Christus selbst ging mit gutem Beispiel voraus: Er kümmerte sich um die Kranken und Bedürftigen, er gab denen, die ihm folgten, Nahrung für Leib und Seele, er nahm sich jener an, die darum baten... In der letzten Nacht, die er mit seinen Aposteln verbrachte, erwies er ihnen den Dienst, der den Sklaven vorbehalten war: Er wusch ihnen die Füße, um ihnen zu zeigen, wie auch sie sich verhalten sollten. Jesus macht ganz deutlich, „worin die Ordnung der Liebe besteht: Gott, die anderen und ich“2. In unserem Gebet können wir mit dem Herrn darüber nachdenken, ob diese Haltungen auch unsere Wünsche und Vorhaben heute motivieren.
AUS DEM LEBEN JESU vor seiner öffentlichen Verkündigung sind uns nicht allzu viele Einzelheiten bekannt. Das Markusevangelium berichtet uns, dass er als Handwerker arbeitete (vgl. Mk 6,3). Dies lässt vermuten, dass er zahlreiche Aufträge für die Bewohner von Nazaret ausgeführt hat. Jesus wird kompetent gearbeitet haben, um den bestmöglichen Dienst zu leisten. Diese Arbeitsweise, die er wahrscheinlich von Josef gelernt hat, zeigt eine grundlegende Haltung aller Christen auf: im Geiste des Dienens zu arbeiten, mit dem Wunsch, zum Wohl und zur Förderung unserer Mitmenschen beizutragen. In diesem Zusammenhang betonte der Gründer des Opus Dei, dass „der heilige Josef in seiner Arbeit nicht auf Selbstbestätigung aus war, obwohl sein arbeitsreichesLeben aus ihm eine reife, profilierte Persönlichkeit gemacht hatte. Josef arbeitete vielmehr im Bewusstsein, dass er den Willen Gottes erfüllte, und hatte dabei das Wohl der ihm Anvertrauten – Jesus und Maria – und aller Bewohner des kleinen Nazaret vor Augen.“3
Jesus wird von klein auf gesehen haben, wie Josef die Arbeit in einen Akt der Liebe zu Gott und des Dienstes an den Menschen verwandelte. Das Leben des heiligen Patriarchen hatte sicherlich diese Gestalt, denn er widmete sich mit seiner täglichen handwerklichen Beschäftigung dem Unterhalt seiner Familie. Im Grunde genommen verleiht die Reaktion des Schriftgelehrten den Jahren der verborgenen Arbeit des Herrn ebenso einen Sinn wie der Phase der Verkündigung: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr und es gibt keinen anderen außer ihm und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer (Mk 12,32-33).
Der Schriftgelehrte erkennt, dass die Nächstenliebe das Beste ist, was man Gott darbringen kann, und dass sie eine Gabe ist, die wir ständig und in allem, was wir tun, darbringen können. Auf diese Weise wird die Pflege unserer Beziehungen zu den anderen wertvoller als alle Opfer, die wir sonst bringen können, denn wir vereinigen uns darin mit der Liebe, die Jesus mit Gott dem Vater verbindet und die die Quelle seines Dienstes an den Menschen darstellt. Unsere Aufgaben werden zu Gottes würdigen und ihm wohlgefälligen Gaben, wenn wir darin diese göttliche Sorge für unsere Mitbürger und diejenigen, für die wir arbeiten, zum Ausdruck bringen. Wie der heilige Josemaría zu sagen pflegte: „Das Unsrige muss eine opferbereite Liebe sein, die sich täglich in unzähligen kleinen Beweisen der Verständnisbereitschaft, des stillen Opfers, der unbemerkten Hingabe niederschlägt. Dies ist der bonus odor Christi, der Wohlgeruch Christi, der diejenigen, die unter unseren ersten Glaubensbrüdern lebten, zu der Bemerkung veranlasste: Seht, wie sie einander lieben!“4
JESUS HAT sich gewöhnlich umgeben von Menschen gezeigt. Wenn er in der Einsamkeit betete, wissen wir, dass er in hohem Maße für die Seinen und für das Kommen des Reiches Gottes für die Menschen eintrat (vgl. Lk 11,1-4). Die Liebe zu Gott isoliert uns nicht von den anderen, sondern wendet sich unseren Mitmenschen zu. Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben (1 Joh 4,20-21). Bei manchen Menschen mag es uns leichter fallen, sie zu lieben; bei anderen hingegen werden wir vielleicht auf anhaltende Schwierigkeiten stoßen: Jeder Mensch ist anders, mit seinem eigenen Charakter, seinen Interessen, seiner Art zu leben und seinen gesammelten Erfahrungen. In jedem Fall hat Jesus uns gelehrt, wie wir eine Gemeinschaft von Menschen stärken können. Papst Franziskus macht uns auf folgendes aufmerksam: „Solange es einen Bruder oder eine Schwester gibt, denen wir unser Herz verschließen, sind wir noch weit davon entfernt, so Jünger zu sein, wie Jesus es von uns verlangt. Doch seine göttliche Barmherzigkeit gestattet uns nicht, den Mut zu verlieren, ja sie ruft uns vielmehr auf, jeden Tag neu anzufangen, um das Evangelium konsequent zu leben.“5
Die ersten Bemühungen können sich auf diejenigen beziehen, die uns am nächsten stehen: unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Arbeitskollegen ... Der Wunsch, Christus ähnlicher zu werden, wird uns dazu bringen, uns um die Bedürfnisse der anderen zu kümmern und zu versuchen, Bequemlichkeit oder Egoismus zurückzustellen. Gleichzeitig ermöglicht uns diese Haltung zu entdecken, was der Herr und die Menschen, die uns lieben, auch für uns tun. Papst Benedikt erläutert: „Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt.“6 Wir bitten die Jungfrau Maria, uns zu helfen, ein Herz wie das ihre zu haben, um Jesus und alle unsere Brüder und Schwestern zu lieben.
1 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 27.
2 Hl. Josefmaria, Allein mit Gott, Nr. 155.
3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr 51.
4 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 36.
5 Franziskus, Angelus-Gebet, 25.10.2020.
6 Benedikt XVI., Enz. Deus caritas est, Nr. 18.