Betrachtungstext: 6. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Gott zählt auf die Menschen um uns herum – Das Gebet hilft uns, die ganze Wirklichkeit zu sehen – Glücklich auf Erden, glücklich im Himmel

JESUS UND SEINE JÜNGER kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren (Mk 8,22). Die Apostel Andreas, Petrus und Philippus stammten aus demselben Fischerdorf am See Gennesaret. Sie kannten wahrscheinlich den Blinden und diejenigen, die ihn zum Herrn brachten. Tatsache ist, dass dies kein Ort war, der großen Glauben an Jesus gezeigt hatte; tatsächlich wird der Herr später die Reaktion von Chorazin und Bethsaida beklagen, obwohl sie so viele Wunder erlebt hatten.

Vielleicht haben auch wir, obwohl wir göttliches Wirken gesehen oder erlebt und so viel vom Herrn gehört haben, manchmal einen schwachen Glauben. Dann sind wir dankbar, dass Gott uns Menschen an die Seite gestellt hat, wie die Freunde des Blinden, die uns in irgendeiner Weise mit Jesus in Berührung bringen, die uns in Worten oder Taten von ihm erzählen. Denken wir zum Beispiel an die Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, an die Männer und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, an die Kranken, an die älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln. An diese Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens (...). Oft ist das die Heiligkeit „von nebenan“, derer, die in unserer Nähe wohnen und die ein Widerschein der Gegenwart Gottes sind1.

Eines Tages ‒ ich will hier nicht verallgemeinern: öffne du selbst dem Herrn dein Herz und erzähle Ihm deine eigene Geschichte ‒ war es vielleicht ein Freund, ein gewöhnlicher Christ wie du, der dir eine tiefere Sicht erschloss, neu und doch zugleich alt wie das Evangelium2. Es ist möglich, dass sich diese Szene im Laufe unseres Lebens immer wiederholen wird, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Gott ist in der Tat in unseren Beziehungen präsent, und wenn wir aufmerksam sind, versucht er durch sie, unsere Blindheit zu heilen und unseren Glauben zu stärken.


AN JENEM ABEND nahm er den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas? Der Mann blickte auf und sagte: Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht (Mk 8,22-24). Zu diesen ersten Regungen des Blinden an der Hand des Herrn ‒ er hob seine Augen von der Erde auf und sah zumindest wie Schatten ‒ bemerkt der heilige Hieronymus: Der Evangelist hat genau geschrieben: ‘Der Mann blickte auf’: Er, der blind war und nach unten sah, schaute auf und wurde geheilt. Und ‘Ich sehe Menschen, denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht’ ist gleichbedeutend mit der Aussage: Bis jetzt sehe ich nur den Schatten, ich sehe noch nicht die Wirklichkeit3.

Um unsere Augen zu erheben und die wahre Wirklichkeit zu entdecken, müssen wir uns auf den Weg des Gebets begeben. Der heilige Josefmaria riet, dass eine der ersten Handlungen des Dienstes, die jedem angeboten werden kann, der in ein Zentrum des Werkes kommt, um sein geistliches Leben wieder zu beleben, gerade darin besteht, ihm zu helfen, zu beten. Am Anfang wird es dir schwer fallen; man muss sich anstrengen, sich an den Herrn wenden und Ihm für seine väterliche und spürbare Fürsorge danken. Allmählich wird die Liebe Gottes fühlbar – auch wenn es eigentlich nicht um Gefühle geht – wie eine feste Hand, die die Seele ergreift. Es ist Christus, der uns liebend verfolgt: Siehe, ich bin an deiner Tür und klopfe (Offb 3,20). Wie steht es mit deinem Gebetsleben? Verspürst du nicht im Laufe des Tages den Wunsch, länger mit Ihm zu sprechen? Sagst du Ihm nicht: Später erzähle ich es Dir, später werde ich mit Dir darüber reden?

In den Zeiten, die eigens dieser Unterhaltung mit dem Herrn gewidmet sind, spricht sich das Herz aus, der Wille wird gestärkt, der menschliche Verstand sieht mit Hilfe der Gnade, wie sich Übernatürliches und Menschliches durchdringen können4.

Dann werden wir, wie der Blinde im Evangelium, unseren Blick mehr und mehr zum Himmel erheben, und die Konturen der Wirklichkeit werden weniger verschwommen sein. Das Gebet ist der Atem des Glaubens; es ist sein ureigener Ausdruck. Es ist gleichsam ein Schrei, der aus dem Herzen derer hervorgeht, die glauben und auf Gott vertrauen5.


JESUS, der voller Geduld war, legte ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich. Er war wiederhergestellt und konnte alles ganz genau sehen (Mk 8,25). Der Lohn für das Mitleid, das an dem Blinden von Bethsaida geweckt wurde, wird größer sein, als er erwarten konnte: Das erste, was er nach dem Durcheinander der Bäume sieht, ist der Blick des Gottessohnes. Vielleicht hatte der frisch geheilte Mann in einigen kurzen Sekunden einen Vorgeschmack auf das, was uns allen im Himmel widerfahren wird, nachdem wir ein Leben lang auf der Suche nach Gott waren: Der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt. Wir können nur versuchen zu denken, dass dieser Augenblick das Leben im vollen Sinn ist, immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden6.

Der christliche Weg ist, auch wenn er die Leiden und Schwierigkeiten der Gegenwart mit Wirklichkeitssinn betrachtet, ein Weg der Freude, weil er die Dinge aus der Perspektive Gottes betrachtet und weiß, dass er auf seine ständige Begleitung zählen kann. Der heilige Josefmaria warnte uns vor Visionen des Kampfes, die das Leiden stärker betonen als den Trost Gottes: Unser Herr ist am Kreuz, aber nicht so, wie manche meinen. Manche denken, wenn ihnen ein Widerspruch begegnet, dass Jesus Christus gesagt hat: Ich bin hier und leide, also leidet auch ihr... Nein! Er hat gesagt: Ich leide, damit ihr glücklich seid. Er möchte, dass wir in der Ewigkeit und auf Erden glücklich sind7. Bitten wir unsere Mutter Maria um einen starken, frohen und barmherzigen Glauben, der uns hilft, heilig zu sein, um ihr eines Tages im Paradies zu begegnen8.


1 Papst Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 7.

2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 1.

3 Hl. Hieronymus, Kommentar zum Markusevangelium, V.

4 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 8.

5 Papst Franziskus, Generalaudienz, 6. Mai 2020.

6 Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, Nr. 12.

7 Hl. Josefmaria, Notizen von einem Familientreffen, 26. Mai 1974.

8 Papst Franziskus, Angelus, 15. August 2017.