IM HEUTIGEN Evangelium zitiert Lukas einige Worte Jesu, die uns etwas überraschen können: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet (wörtlich „hasst“), dann kann er nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). Im Alten Testament stehen die Ausdrücke „lieben und hassen“ häufig für eine Präferenz oder Priorität. So wird etwa ausgedrückt, dass Jakob Rahel liebte und Lea weniger beachtete (vgl. Gen 29,30) oder dass der Herr Jakob erwählte und Esau zurückstellte (vgl. Röm 9,13). In diesem Sinn macht Jesus hier deutlich, dass die Nachfolge in seiner Liebe über allem anderen stehen soll. Wie ein Kirchenvater betonte: „Wir sollen alle lieben – Verwandte wie Fremde –, jedoch ohne uns um ihretwillen von der Liebe Gottes zu entfernen.“1 Der heilige Josefmaria merkte an, dass man diese Worte Jesu auch „etwa mit mehr liebt, besser liebt übersetzen könnte, das heißt, mit einer Liebe, die über egoistische oder oberflächliche Gefühle hinausgeht: Wir sollen mit der Liebe Gottes lieben.“2
Wenn wir erkennen, dass Jesu Forderung an uns letztlich ein Geschenk ist, erwächst daraus eine dankbare und großzügige Antwort. Jesus ruft jeden und möchte das Größte mit uns teilen, das er hat: die wahre, bedingungslose Liebe. Damit wir diese Liebe wirklich annehmen können, bittet er uns, frei zu werden. Dann erhalten auch alle anderen irdischen Dinge ihr angemessenes Gewicht und ihren Platz in unserem Leben. An anderer Stelle sagt Jesus: Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben (Mk 10,29-30).
NACHDEM er zur vollkommenen Hingabe aufgerufen hat, bringt Jesus zwei etwas rätselhafte Beispiele. Zuerst erzählt er von einem Mann, der einen Turm bauen möchte, vorher aber berechnet, ob sein Geld für das Vorhaben reicht. Dann spricht er von einem König, der in einen Krieg ziehen will, vorher aber überlegt, ob er mit seinen Soldaten überhaupt siegen kann. Es ist seltsam, dass Jesus von Berechnungen und Abwägungen spricht, kurz nachdem er dazu aufgerufen hat, alles hinzugeben.
Vielleicht möchte er uns aber gerade damit zum Nachdenken bringen: Wahre Selbsthingabe entsteht immer aus der aufmerksamen Betrachtung einer vorausgegangenen Gabe; in Wahrheit wird sogar die Selbsthingabe im Stillen von Gott bewegt, auch wenn es so aussieht, als würden wir sie aus eigener Kraft umsetzen. In der Nacht vor seinem Leiden leitete Jesus sein Erlösungsopfer mit den Worten ein: Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin (Joh 10,18). Um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, gibt er sein Leben mitten in einer großen Freude auf: Mit großer Sehnsucht habe ich danach verlangt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen (Lk 22,15). Die Hingabe entspringt der Dankbarkeit für ein großes, unentgeltlich erhaltenes Geschenk. Jesus dankt seinem Vater für all das Gute, das er über die Welt ausgießen wird, und bekennt, glücklich zu sein, an der Erlösung der Menschheit teilhaben zu können. Nur so entsteht eine Hingabe ohne Berechnung und Maß.
Anhand der Beispiele im Evangelium können wir darüber nachdenken, was wir erhalten haben und welche Mittel uns zur Verfügung stehen. Wenn wir einen himmelhohen Turm bauen wollen oder die Schlacht unseres Lebens gewinnen möchten, müssen wir zuerst überlegen, welche Mittel oder Kräfte wir besitzen. Oft mangelt es uns nicht an aufrichtigen Absichten oder dem Wunsch, Gott zu entsprechen. Die wertvollste Kraft und das wichtigste Mittel, das uns zur Verfügung steht, ist dabei dies: der Ruf des Herrn und er selbst. Wer Gott als Konkurrenten betrachtet, wird seine Bitten leicht als Verlust empfinden. Wer entdeckt, dass er auf seiner Seite steht, wird bereit, zu bauen, was nötig ist.
BEMERKENSWERTER WEISE stimmen die beiden Beispiele in einem Punkt überein: Vor einer wichtigen Entscheidung soll man sich „hinsetzen“. Ob es darum geht, einen Turm zu bauen oder in die Schlacht zu ziehen, beide Entscheidungen sollten im Sitzen getroffen werden. Sich hinzusetzen, um zu überlegen, ob wir den Turm erfolgreich errichten oder die Schlacht gewinnen können, bedeutet, nach innen zu schauen. Wir müssen schauen, ob unser Vertrauen in erster Linie auf Gott gerichtet ist oder ob wir nur auf unsere Kräfte bauen oder Tricks suchen, und die Dinge mit weltlicher Schlauheit zu lösen. Dieser innere Kampf ist entscheidend, um Christus mit Großmut zu folgen.
In diesem Sinne können wir Papst Franziskus zustimmen, wenn er sagt, „dass es einen tieferen Krieg gibt, in den wir ziehen müssen, alle! Es handelt sich um die starke und mutige Entscheidung, auf das Böse und dessen Versuchungen zu verzichten und das Gute zu wählen, bereit, persönlich dafür einzustehen: Das heißt es, Christus nachzufolgen, das heißt es, sein Kreuz zu tragen!»3
Der heilige Franz von Sales rät, in diesem Kampf auch die kleinen Mühen des Alltags nicht gering zu schätzen: „Die kleinen Leiden in Liebe angenommen und ertragen, erfreuen die göttliche Güte, die für einen einzigen Becher Wasser das Meer der Seligkeit versprochen hat. Da sich solche Gelegenheiten häufig bieten, können wir, wenn wir sie gut nützen, große geistliche Reichtümer aufhäufen.“4 Als der heilige Josefmaria eines Tages an einer Segnung mit dem Lignum Crucis teilnahm, sagte er zu den Anwesenden: „Nach dem Segen werden wir das Kreuz küssen und dabei aufrichtig sagen, dass wir es lieben. Denn wir sehen im Kreuz nicht mehr, was es uns kostet oder kosten könnte, sondern die Freude, dass wir uns hingeben können, indem wir uns von allem freimachen, um die ganze Liebe Gottes zu finden.“5
Die Jungfrau Maria stand am Fuße des Kreuzes und legte alles, einschließlich ihres Sohnes, in Gottes Hände. Vielleicht fühlte sie in ihrem Herzen eine Danksagung aufsteigen, als sie sah, was Gott für die Menschen tut und wie sehr er uns liebt, auch wenn dies bedeutete, dass sie Jesus hergeben musste. Doch inmitten der Finsternis des Leidens und des Todes ihres Sohnes hoffte sie auf seine Auferstehung, auf den Sieg der Liebe Gottes.6
1 Hl. Gregor der Große, Predigten über die Evangelien, 37,3.
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 97.
3 Franziskus, Angelus-Gebet, 8.9.2013.
4 Hl. Franz von Sales, Anleitung zum frommen Leben (Philothea), III, 35.
5 Hl. Josefmaria, Worte vom 14.9.1969, zitiert in Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, Rialp, Madrid 2000, S. 217.
6 Vgl. Franziskus, Audienz, 1.3.2017.