WELCHES Gebot ist das erste von allen? (Mk 12,28). Mit dieser Frage beginnt ein offenes Gespräch zwischen einem Schriftgelehrten und Jesus. Jesus antwortet: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft (Mk 12,29-30). Jesu Antwort war jedem Kenner der jüdischen Tradition vertraut. Bei näherem Hinsehen offenbart sie dennoch etwas Überraschendes: Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Allmächtige und Ewige, bittet den Menschen, ihn zu lieben. Derjenige, der alles hat, alles gemacht hat und alles kann, zeigt sich als jemand, der Liebe sucht. Er lädt uns, seine Geschöpfe, die aus dem Staub des Erdbodens entstanden sind (vgl. Gen 2,7), ein, an seiner Liebe und seinem Glück teilzuhaben.
Der weise Israelit staunt über das Gehörte. Sein wohlwollendes Herz wird von Licht erfüllt, und er erkennt, dass sein Gesprächspartner Antworten und eine vertrauensweckende Art zu sprechen hat. Begeistert kann er seine Zustimmung nicht zurückhalten: Sehr gut, Meister! (Mk 12,32). Es kam selten vor, dass ein Schriftgelehrter offen anerkannte, dass Jesus Recht hatte – und das auf so direkte Weise. Die meisten seiner Kollegen reagierten gegenteilig, weshalb Markus wohl berichtet, dass keiner mehr wagte, Jesus eine Frage zu stellen (Mk 12,34). Wir hingegen würden Jesus gern mit all den Fragen bestürmen, die uns beschäftigen. Wir würden ihn gerne bitten, uns immer wieder dasselbe zu erklären, denn von seinen Lippen kommt nie das Gleiche und seine Worte kehren nie leer zurück (vgl. Jes 55,11).
Der Teufel kämpft hartnäckig gegen diese vertrauensvolle Beziehung, die Gott mit den Menschen aufbauen möchte. Er will uns, wie schon unseren Stammeltern, einreden, dass Gott versteckte Absichten habe: Nein, ihr werdet nicht sterben, versucht er das Urpaar in Misstrauen zu wiegen. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse (Gen 3,4-5). Papst Benedikt XVI. ging gleich in seiner ersten Predigt als Papst auf weit verbreitete Vorbehalte ein: „Haben wir nicht alle irgendwie Angst, dass, wenn wir Christus ganz herein lassen und uns ihm ganz öffnen, uns etwas genommen wird von unserem Leben? Müssen wir dann nicht auf so vieles verzichten, was das Leben erst so richtig schön macht?“ Und dann rief der Papst den Menschen Mut zu: „Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück. Ja, aprite, spalancate le porte per Cristo – öffnet für Christus weit die Türen – dann findet ihr das wirkliche Leben.“1
BITTEN WIR unseren Herrn mit Worten des heiligen Josefmaria, unseren Verstand für das Geschenk seines ersten Gebots zu öffnen: „Wenn ich sehe, wie wenig ich von deiner Größe, deiner Güte, deiner Weisheit, deiner Macht, deiner Schönheit verstehe, bin ich nicht traurig: Ich freue mich, dass du so groß bist, dass du in mein armes Herz, in meinen begrenzten Verstand nicht passt. Mein Gott! All diese Größe, all diese Macht, all diese Schönheit ... gehören mir! Und ich ... gehöre dir!“2
Und als wäre unser Erstaunen über Gottes Bereitschaft, diese Beziehung einer vertrauensvollen Liebe mit den Menschen einzugehen, nicht schon genug, lässt er uns auch noch völlig frei, auf seine Einladung zu antworten. Er drängt, er zwingt, er manipuliert uns in keiner Weise. Wir spüren klar, dass es an uns liegt, das Gute anzunehmen – oder auch nicht. Wer sich nach Liebe sehnt und sie dennoch nicht erzwingen will, ist besonders empfänglich für jedes Zeichen der Zuneigung. Er nimmt jedes noch so kleine Zeichen wie ein Geschenk an und sein Herz quillt über vor Freude. So ist es in gewisser Weise auch zwischen Gott und uns: Nicht, weil er unsere Liebe nicht verdiente, sondern weil wir sie ihm niemals vollständig geben können. Die Distanz ist unendlich, aber Gott hat sie mit Freude überwunden – durch seinen Sohn Jesus Christus. Er selbst hat gesagt, dass sein Joch sanft und seine Last leicht ist (vgl. Mt 11,30).
ALS ZWEITES Gebot kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden (Mk 12,31). Auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot antwortet Jesus also mit zwei Geboten. Es ist, als stelle er sie auf eine Stufe, als wären sie zwei Seiten derselben Münze. In seiner Enzyklika über die Liebe betonte Papst Benedikt XVI. die Untrennbarkeit dieser beiden Gebote: „Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch empfindsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie sehr er mich liebt.“3
Indem wir für die anderen da sind und den göttlichen Weg nachahmen, verstehen wir Gott und seine Liebe zu uns besser. Liebe geben und Liebe empfangen, von Gott und von anderen Menschen, sind untrennbare Momente. Trennen wir sie zu sehr voneinander, laufen wir Gefahr, in der Theorie stecken zu bleiben und beide Beziehungen zu vernachlässigen. Die Liebe zu Gott zeigt sich in meiner Bereitschaft, meinem Bruder in Not nahe zu sein, ihm zu helfen, ihn zu begleiten. Papst Franziskus schrieb in seiner Enzyklika über das Apostolat: „Wir müssen anerkennen, dass jeder Mensch unserer Hingabe würdig ist. Nicht wegen seines Aussehens, seiner Fähigkeiten, seiner Sprache, seines Denkens oder der Befriedigung, die wir durch ihn empfinden, sondern weil er Werk Gottes ist, sein Geschöpf. Dieser hat ihn als sein Abbild erschaffen, und er spiegelt etwas von Gottes Herrlichkeit wider. Jeder Mensch ist Gegenstand der unendlichen, zärtlichen Liebe des Herrn, und er selbst wohnt in seinem Leben. Jesus Christus hat sein kostbares Blut am Kreuz für diesen Menschen vergossen.“4
Am Fuß dieses Kreuzes, an dem Ort also, an dem wir alle Zugang zu einer innigen Beziehung zu Gott erhalten haben, steht unsere Mutter Maria. Sie ist diejenige, die beide Gebote vollkommen vereinte: Sie liebte Gott, weil sie die Menschen liebte, und sie liebte die Menschen, weil sie Gott liebte. Unsere „liebenswerte Mutter“ kann uns an die Hand nehmen und uns in diesen Strom der Liebe einführen.
1 Benedikt XVI., Predigt, 24.4.2005.
2 Hl. Josefmaria, Betrachtung, 19.3.1975.
3 Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 18.
4 Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 274.