Betrachtungstext: 28. Woche im Jahreskreis – Sonntag (B)

Von der Begeisterung zur Liebe – In jedem Moment das Gute erkennen – Eine radikale Botschaft

SICHERLICH hat ein Wort Jesu das Herz des jungen Juden tief berührt. Schon lange bemühte er sich um ein gutes Leben, doch noch nie hatte er jemanden so eindringlich über Gott sprechen hören. Der Meister aus Nazaret ließ ihn intuitiv spüren, dass er das besaß, wonach er sich sehnte: das Versprechen eines tieferen, transzendenten Sinns im Leben. Trotz der Menschenmenge, die sich um den Lehrer drängte, trat der junge Mann vor, fiel vor Jesus auf den Boden und fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? (Mk 10,17).

Seine Geste und Worte zeugen von Bewunderung für die Autorität Jesu. Doch der Herr antwortet ihm mit einer gewissen Strenge: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer der eine Gott (Mk 10,18). Christus kennt die Qualität dieses jungen Mannes und möchte dessen jugendlichen Eifer auf eine tiefere Motivation lenken. Denn eines will Jesus sicherlich nicht: dass er ihm aus einer oberflächlichen Verehrung seiner Person oder zur Absicherung existenzieller Unwägbarkeiten nachfolgt. Der Herr ist mehr als ein psychologischer Trost. Jesus ist die Inkarnation eines persönlichen Gottes, der uns zum Dialog einlädt und Wege aufzeigt, mit welchen wir vielleicht nicht gerechnet haben.

Der tiefste Grund, Jesus zu folgen, ist das Verlangen, seine Liebe zu teilen und unser Leben mit ihm zu erneuern. Dies ist ein wertvoller Schlüssel, um zu prüfen, ob wir Christus aus einer wahren und freien Motivation folgen – und nicht bloß aus dem Wunsch, eine Pflicht zu erfüllen, indem wir jemanden ehren, der gut, aber fern ist. Der heilige Josefmaria hat uns aus eigener Erfahrung geraten: „Lebe den Glauben, voll Freude, indem du Jesus Christus nahe bleibst. Liebe ihn wirklich – aber wirklich, verstehst du? Dann wirst du, weil du immer mehr liebst, eine große Rolle im großen Abenteuer der Liebe Gottes einnehmen.“1


DU KENNST doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter! (Mk 10,19). Jesus will dem jungen Mann klar machen, dass der erste Schritt, um sich nicht von einer flüchtigen Sentimentalität mitreißen zu lassen, darin besteht, das eigene Leben auf bestimmte Werte zu gründen, die ihm Sinn und Schönheit verleihen. Es stimmt zwar, dass Gott allein gut ist, aber wir sind dazu berufen, an Gottes Güte teilzuhaben, und das erreichen wir in dem Maße, wie wir Gottes Wünsche zum Antrieb unserer Werke machen.

Der reiche junge Mann, der sich seines bisherigen Lebensstils sicher ist und in seiner Beziehung zu Gott einen weiteren Schritt tun möchte, antwortet, ohne zu zögern: Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt (Mk 10,20). Seine Intuition ist richtig: Es reicht nicht aus, eine Liste von Geboten zu erfüllen, um innerlich erfüllt zu sein. Denn das Leben ist so reich an Umständen und Menschen, dass wir in jedem Moment im Dialog mit dem Herrn unterscheiden müssen, was in diesem spezifischen Moment das Richtige ist. Auf unserem Weg zur Heiligkeit können wir uns nie leicht zufrieden geben.

Um die Erfüllung der Gebote an unsere individuellen Lebensumstände anzupassen und unsere Taten auf die Liebe auszurichten, gibt es eine Tugend, die alle anderen überragt: die Klugheit. In der ersten Lesung des heutigen Gottesdienstes hören wir einige schöne Worte zum Lob dieser Tugend: Daher betete ich und es wurde mir Klugheit gegeben; ich flehte und der Geist der Weisheit kam zu mir. (…) Mehr als Gesundheit und Schönheit liebte ich sie und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt. Zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir, unzählbare Reichtümer waren in ihren Händen (Weish 7,7.10-11). Die Klugheit des Herzens ist Frucht eines freimütigen und offenen Dialogs mit dem Herrn. Dieser lässt uns in jedem Moment fragen, was wir unsererseits tun können, damit wir mehr und besser lieben lernen und unser Leben einen tieferen und bleibenden Sinn erlangt. Papst Franziskus sagte: „Der Klugheit den Vorrang einzuräumen bedeutet, sein Handeln dem Verstand und der Freiheit anvertraut zu haben. Der kluge Mensch ist schöpferisch: Er argumentiert, bewertet, versucht, die Komplexität der Wirklichkeit zu verstehen und lässt sich nicht von Emotionen, Trägheit, Druck oder Illusionen leiten.“2


JESUS hätte gerne gehabt, dass der reiche junge Mann Teil seines engeren Jüngerkreises wird. Er erkannte das tiefe Verlangen des jungen Mannes nach einem inneren Funken, einem Feuer, das nur in der Nähe Christi entstehen kann. Deshalb sagte er zu ihm: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach! (Mk 10,21). Doch da nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung. Der junge Mann, der gerade noch voller Enthusiasmus vor Jesus niedergekniet war, steht auf und geht. So wie er vielleicht den Mut aufgebracht hatte, seine Scham zu überwinden und Jesus öffentlich anzusprechen, verschwindet er nun in die Anonymität der Evangelien.

Der Evangelist erklärt, dass der Junge reich war und nicht bereit, seinen Besitz aufzugeben, um Jesus zu folgen. Doch möglicherweise war es nicht allein der materielle Reichtum, der ihn zurückhielt, sondern die Radikalität von Christi Aufforderung, die seinen guten, aber nicht entschlossenen Willen überforderte. Die Liebe Jesu, die ihn zuvor mit einem liebevollen Blick empfangen hatte, sollte ihn auf einen ungeahnten Weg führen. In dieser Einladung lag die Chance, die Prioritäten seines Herzens völlig neu zu ordnen. Doch der junge Mann entschied sich, sein Leben nicht zu „verkomplizieren“ und kehrte zu der Sicherheit zurück, die ihm sein Reichtum und seine bisherige Lebensweise, einschließlich der Erfüllung des Gesetzes, boten. Der heilige Josefmaria schrieb: „Jeder, der Jesus ganz nahe folgen will, entdeckt sofort, dass es nicht möglich ist, ihm mit schleppendem Schritt zu folgen. Für Routine ist kein Platz. Denn Gott gibt sich nicht damit zufrieden, dass wir auf einem bestimmten Niveau verharren und uns dort ausruhen. Gott fordert immer mehr, und seine Wege sind nicht unsere Wege.“3

Jesus fordert immer mehr. Diese Forderung ist jedoch keine erdrückende Last, die uns den Atem nimmt und uns davon abhält, andere edle Dinge im Leben zu genießen. Die Forderung Jesu führt uns immer näher an die Quellen des Lebens – die aus seinem Kreuz fließen. In seiner Nähe entdecken wir die unendlichen Schätze des Heils für die Welt. Es ist wahr, dass wir in unserem Gebet, wenn sich ein neuer Weg auftut, oft zuerst an die Schwierigkeiten oder das Leid denken, die uns auf diesem Weg begegnen könnten. In solchen Momenten sind wir versucht, uns von Jesus abzuwenden, um unser Leben nicht unnötig zu belasten. Gerade deshalb brauchen wir in solchen Zeiten die besondere Gegenwart Marias. Ihr Beispiel von Heldentum und Normalität zeigt uns, warum es sich lohnt, alles aufzugeben, um ihrem Sohn zu folgen. Sie hilft uns, den Mut zu finden, den Weg zu gehen, den Jesus für uns vorgesehen hat.


1 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 448.

2 Franziskus, Audienz, 20.3.2024.

3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 54.