DAS MOSAISCHE Gesetz schrieb eine Reihe von Riten vor, die die moralische Reinheit symbolisieren sollten, mit der man sich Gott nähern durfte. Im Laufe der Zeit dehnte die Tradition diese Riten auf weitere Bereiche aus, um allen Handlungen einen religiösen Wert zu verleihen. So wuschen sich die Juden vor dem Essen mehrfach die Hände und taten dasselbe mit Tassen, Krügen und Gefäßen. Auf diese Weise sollte die äußere Reinheit die innere Reinheit ausdrücken und betonen. Zur Zeit Christi führte eine übertriebene Beflissenheit in Bezug auf die rituellen Vorschriften vielerorts dazu, dass die Bedeutung der Anbetung Gottes in den Hintergrund geriet. Als einige Pharisäer die Jünger Jesu kritisierten, weil sie vor dem Essen nicht die rituelle Handwaschung vorgenommen hatten, nutzte der Herr die Gelegenheit, um über die wahre Reinheit zu sprechen (vgl. Mk 7,1-23).
Der Prophet Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte, wie geschrieben steht: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir (Mk 7,6). Christus prangert die mangelnde Kohärenz einiger Pharisäer an. Nach außen hin führten sie ein makelloses Leben und verfolgten ein wertvolles Lebensprojekt, das sie theoretisch Gott näherbringen sollte, doch in ihrem Inneren verbargen sie die wahren Motive ihres Handelns. Sie entwickelten Gefühle, die sie von Gott entfernten, und nährten Begierden, die ihrer eigentlichen Identität widersprachen. Sie lebten in einer tiefen inneren Spaltung.
Der Herr wünscht sich, dass wir ihn nicht nur mit unseren Taten lieben, sondern vor allem mit unserem Herzen. Wir sind eine Einheit. Es ist unmöglich, ein sinnvolles Lebensprojekt zu verwirklichen, wenn unsere innere Welt – bestehend aus Wünschen, Träumen und Gefühlen – nicht im Einklang damit steht. Deshalb sagte der heilige Josefmaria, dass das Geheimnis der Beharrlichkeit die Liebe ist.1 Wenn diese der Hauptmotor unseres Handelns ist, werden wir lernen, uns auch an der Vertrautheit mit Gott, am Dienst an den anderen und an der Befolgung der Gebote zu erfreuen ... Und unsere Fehler werden zu einer Gelegenheit, uns zu bekehren und unsere Beziehung zum Herrn neu zu festigen. „Wenn du treu bist“, so schrieb der heilige Josefmaria, „wirst du dich Sieger nennen können. Du magst in deinem Leben manche Schlacht verlieren, wirst aber keine Niederlage erfahren. Denn du kannst sicher sein: Es gibt kein Scheitern, wenn du mit lauterer Absicht und mit dem Wunsch handelst, den Willen Gottes zu erfüllen. Du wirst dann – mit oder ohne Erfolg – immer siegreich sein, weil du aus Liebe gearbeitet hast.“2
NACH jüdischem Brauch galten bestimmte Speisen als unrein und durften daher nicht verzehrt werden. Jesus aber forderte die Menschen auf, ihren Blick auf ihr Herz zu richten, denn dort entstehen die Neigungen und Wünsche, die zur Abkehr von Gott führen können: Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein (Mk 7,20-23).
Jesus betont damit, dass die bösen Taten, bevor sie nach außen dringen, im Inneren eines jeden Menschen entstehen. Um ihm nahe zu sein, ist es daher wichtig, auf die eigene innere Welt – auf die Gesamtheit von Gefühlen, Wünschen und Neigungen – zu achten. Wenn wir ignorieren, was unser Herz erfreut oder betrübt, behindern wir die Selbsterkenntnis und verlieren die Fähigkeit, unsere innere Energie auf die Ideale auszurichten, die unser Leben inspirieren. Durch die Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen, entwickeln wir unsere Sensibilität weiter. Wenn diese mit unserer Berufung harmoniert, können wir über die Freude an einzelnen Handlungen hinaus auch eine Zeit des Gebets, eine gut gemachte Arbeit oder einen Akt des Dienens genießen. Führt uns unsere Sensibilität von Gott weg und passt nicht zu unserer Identität, fließt unsere Energie in eine Richtung, die unseren eigentlichen Zielen widerspricht, und verstärkt Wünsche und Gefühle, die unserer Berufung entgegenstehen.
Die Gebetszeiten mit dem Herrn und die abendliche Gewissenserforschung sind eine Gelegenheit, die Ereignisse des Tages noch einmal durchzugehen. Gott kann uns helfen, unsere Freuden, Sorgen und vor allem das zu entdecken, wonach wir suchen, um unseren Durst nach Glück zu stillen. Auf diese Weise stellen wir fest, wie Papst Franziskus sagte, „dass unser Herz keine Straße ist, auf der alles Mögliche passiert, ohne dass wir es merken. Nein. Schauen wir: Was ist heute passiert? Was ist geschehen? Worauf habe ich reagiert? Was hat mich traurig gemacht? Was hat mich froh gemacht? Was war schlecht, und was habe ich anderen angetan? Es geht darum, den Verlauf der Gefühle und Anziehungskräfte über den Tag hinweg wahrzunehmen.“3 Wenn wir unseren inneren Erlebnissen auch noch konkrete Namen geben, hilft uns das, uns selbst besser kennenzulernen. Dies ist der erste Schritt, um unser Herz von allem zu befreien, was uns von Gott entfernt.
DASS DAS Unrecht aus dem Inneren des Menschen kommt, bedeutet nicht, dass die äußeren Umstände keine Rolle spielen. Im Gegenteil, sie können erheblichen Einfluss ausüben. Wenn unser Alltag von stimulierenden Bildern und Geräuschen bestimmt ist und uns Stille unangenehm erscheint, wird es uns schwerfallen, die Stimme Gottes im Gebet zu vernehmen, denn diese ist wie ein sanftes, leises Säuseln (1 Kön 19,12). Die ständige Befriedigung unserer Sinne führt dazu, dass die Außenwelt unser Inneres dominiert. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie uns Schlechtes vermittelt, aber sie hindert uns daran, zwischen dem zu unterscheiden, was uns zu Gott führt, und dem, was uns von ihm entfernt. Denn wir übersehen leicht, dass hinter dem Anschein des Guten oft die Unordnung der Sünde steckt. Papst Franziskus warnte: „Die Versuchung preist uns nicht unbedingt schlechte, oft aber ungeordnete Dinge an, die sie uns als übermäßig wichtig vor Augen stellt. So hypnotisiert sie uns mit der Anziehungskraft, die diese Dinge auf uns ausüben: schöne, aber illusorische Dinge, die nicht halten können, was sie versprechen, und in uns letztlich ein Gefühl der Leere und der Traurigkeit hinterlassen. Dieses Gefühl ist ein Zeichen dafür, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der nicht richtig war, der uns in die Irre geführt hat.“4
Der heilige Josefmaria ermunterte uns, unsere Innerlichkeit zu wahren: „Was musst du herumgucken, wenn du ,deine Welt‘ in dir trägst?“5 Eine reiche innere Welt, die sich an allem freut, was mit unserer Berufung zusammenhängt, hilft uns, den äußeren Dingen die richtige Bedeutung beizumessen. Ein Lied zu hören, ein Video anzuschauen oder eine Nachricht zu lesen, kann warten, wenn wir wissen, dass das Aufschieben dieser Befriedigung uns hilft, später besser zu arbeiten und zu beten. Und was der Seele schaden könnte, werden wir dann nicht nur als sinnlos, sondern auch als unangenehm oder störend empfinden. Natürlich kann es eine gewisse Anziehungskraft haben, aber es wird leicht sein, sich ihr zu entziehen, wenn sie nicht zu uns passt, weil sie die Harmonie und Schönheit unserer inneren Welt stört. Kein menschliches Wesen hatte eine so reiche innere Welt wie die Jungfrau Maria. Sie kann uns helfen, eine Sensibilität zu entwickeln, die das Leben in Gemeinschaft mit ihrem Sohn genießt.
1 Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 999.
2 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 199.
3 Franziskus, Audienz, 5.10.2022.
4 Ebd.
5 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 184.