DIE APOSTEL sind hungrig. Wahrscheinlich haben sie seit mehreren Tagen nichts gegessen. Als sie an Getreidefeldern vorbeikommen, pflücken sie einige Ähren, reiben sie in ihren Händen und essen die Körner. An sich ist diese Handlung unproblematisch, doch es ist Sabbat, und an diesem Tag darf laut Gesetz nicht geerntet werden. Einige Pharisäer, die das Verhalten der Jünger beobachten, sind empört und fragen: Warum tut ihr, was am Sabbat nicht erlaubt ist? (Lk 6,2). Jesus antwortet selbst: Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren – wie er in das Haus Gottes ging und die Schaubrote nahm, die allein die Priester essen dürfen, und sie aß und auch seinen Begleitern davon gab? (Lk 6,3-4).
Der Herr setzte sich immer wieder über traditionelle Praktiken des jüdischen Volkes hinweg. Schriftgelehrte und Pharisäer machten ihm deshalb zum Vorwurf, dass seine Jünger sich vor dem Essen nicht die Hände wuschen oder dass er am Sabbat heilte. Warum aber tat er das? Um den Glauben in den Mittelpunkt der religiösen Praxis zu stellen. Papst Franziskus verwies auf die Gefahr, die darin besteht, (…) sich auf Äußerlichkeiten zu konzentrieren und das Herz des Glaubens zugleich zu vernachlässigen: „Allzu oft ,schminken‘ wir uns unsere Seele. (…) Es besteht die Gefahr einer Schein-Religiosität: Man wirkt nach außen hin gut, während man es zugleich unterlässt, das Herz zu reinigen. (…) Jesus will keine Äußerlichkeiten, er will einen Glauben, der das Herz berührt.“1
Das bedeutet nicht, dass äußere Handlungen unwichtig wären. Zahlreiche Traditionen der damaligen Zeit spiegelten sich im Alltag Jesu wider: Er betete regelmäßig, ging in die Synagoge und feierte die Feste. Doch er tat dies nicht aus reiner Pflicht oder um Anerkennung zu erlangen, sondern als Ausdruck der Liebe, die sein Herz erfüllte. Papst Benedikt erinnerte daran, dass das christliche Leben, nicht in der Befolgung eines Gesetzes besteht, „sondern in der Begegnung mit einer Person – Christus –, den wir annehmen und dem wir nachfolgen sollen“2.
JESUS kritisiert nicht den Eifer, mit dem einiger Schriftgelehrter und Pharisäer das Gesetz befolgen, sondern ihren Mangel an Liebe. Etliche von ihnen widmeten viel Zeit dem Gebet und dem Fasten, vernachlässigten jedoch die grundlegendsten Pflichten der Nächstenliebe. Ohne zu zögern verurteilten sie diejenigen, die sich nicht bemühten, ihren strengen Regeln zu folgen, und stellten die Einhaltung von Vorschriften über das Wohl eines Menschen. Dabei gibt es keinen größeren Widerspruch, als das göttliche Gesetz gegen das Bestreben auszuspielen, das Wohl der Mitmenschen zu suchen. Der heilige Josefmaria sagte dazu: „Ich ziehe die Tugenden den Kasteiungen vor – so, wenn auch mit anderen Worten, spricht Jahwe zum auserwählten Volk, das sich allzu leicht mit äußeren Riten begnügte und damit sich selbst betrog. Wir müssen deshalb die Buße und die Abtötung pflegen – als wahre Zeichen der Liebe zu Gott und zum Nächsten.“3
Der heilige Gregor der Große hielt fest, dass das Fasten durch die Tugenden geheiligt wird, die es begleiten – besonders durch die Großzügigkeit.4 In diesem Sinne ermutigte uns der heilige Josefmaria zu „Abtötungen, die nicht die anderen abtöten, sondern die uns feinfühliger, verständnisvoller, offener für alle anderen machen“. Und er fügte hinzu: „Du besitzt nicht den echten Geist der Abtötung, wenn du überempfindlich bist, nur auf deine egoistischen Wünsche bedacht bist, andere ausnutzt, es nicht fertigbringst, auf Überflüssiges, manchmal auch Nötiges zu verzichten, wenn du traurig wirst, nur weil dies oder jenes nicht nach deinen Vorstellungen geschieht. Echten Geist der Abtötung hast du hingegen, wenn du es verstehst, allen alles zu werden, um alle zu retten.“5
Jeder Tag bietet uns zahlreiche Gelegenheiten, Gott zu gefallen, indem wir das Wohl unserer Mitmenschen suchen: zu lächeln, auch wenn wir müde sind, bereit zu sein, eine umfangreiche Aufgabe zu übernehmen, kleine Reibereien des Alltags zu verzeihen oder unsere Zeit mit jenen zu teilen, die sie am meisten brauchen ... Durch solche Gesten erfüllen wir die zentralen Gebote des Gesetzes: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst (Lk 10,27).
MANCHMAL vermitteln uns reine Formfragen ein Gefühl von Sicherheit. Wir alle brauchen klare Anweisungen, um sicher zu wissen, dass wir etwas richtig machen. Wenn wir diesen Ansatz jedoch auf das christliche Leben übertragen, riskieren wir, wie die Pharisäer zu werden. Jesus tadelte sie, weil sie zwar äußerlich gute Werke taten, ihr Herz aber nicht von echter Liebe erfüllt war. Wenn wir hingegen die Gebote mit vollem Einsatz – mit unserem Willen, unseren Gefühlen und unserem Verstand – leben, finden wir eine tiefe, heitere Freude. Mit unseren geistigen Sinnen verkosten wir in jedem Gebot und in jeder Lebenssituation die Liebe Gottes. Der Prälat des Opus Dei, Msgr. Fernando Ocáriz, erklärt: „Das Bewusstsein, dass Gottes unendliche Liebe nicht nur am Anfang unserer Existenz da war, sondern in jedem Moment gegenwärtig ist, weil er uns näher ist als wir uns selbst, schenkt uns Sicherheit.“6
Wenn wir unser christliches Leben auf unsere Gotteskindschaft gründen, erfüllt uns dies mit Optimismus. Man sagt oft, dass die Zuneigung, die ein Kind von seinen Eltern erfährt, einen entscheidenden Einfluss auf seine Zukunft hat. Fühlt es sich von klein auf geliebt und anerkannt, wird es später als Erwachsener stabile Beziehungen aufbauen können. Ähnliches geschieht in unserer Beziehung zu Gott. Msgr. Ocáriz sagte einmal: „Das Bewusstsein, dass wir einen Vater haben, der uns unendlich liebt, lässt uns ein freudiges und erfülltes Leben führen und alle Bereiche unseres Daseins im Lichte dieser Liebe, dieses Vertrauens und dieser Einfachheit sehen, auch inmitten von Schwierigkeiten oder wenn wir unsere Fehler deutlicher spüren.“7 Diese Gotteskindschaft verändert auch unsere Sicht auf die Erfüllung der Gebote. Wir sehen uns nicht als Untertanen, die versuchen, einem strengen König zu gefallen, sondern als Kinder, die sich bemühen, ihrem liebenden Vater Freude zu bereiten – auch wenn es uns nicht immer gelingt. Bitten wir die Jungfrau Maria darum, stets spüren zu dürfen, dass wir Gottes geliebte Kinder sind.
1 Franziskus, Angelus-Gebet, 29.8.2021.
2 Benedikt XVI., Audienz, 9.3.2011.
3 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 992.
4 Vgl. Hl. Gregor der Große, Regula Pastoralis, 19, 10-11.
5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 9.
6 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 9.1.2018.
7 Msgr. Fernando Ocáriz, Predigt, 26.6.2024.