DIE Schriftgelehrten und Pharisäer galten als eifrige Gläubige, die das Gesetz gewissenhaft befolgten. Doch einige von ihnen beschränkten sich darauf, anderen vorzuschreiben, wie sie leben sollten, ohne selbst danach zu handeln. Aus diesem Grund prangerte Jesus wiederholt ihre Heuchelei an, in der Hoffnung, sie zu einem Gesinnungswandel zu bewegen: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Denn ihr selbst geht nicht hinein und lasst die nicht hinein, die hineingehen wollen (Mt 23,13).
In gewisser Weise teilt jeder Christ die Aufgabe der Schriftgelehrten und Pharisäer, den Glauben weiterzugeben – sei es in der Familie, im Freundeskreis oder in der Gesellschaft. Generell stehen wir alle in der Verantwortung, andere zu leiten und ihnen dabei mit Feingefühl und Achtung vor ihrer Freiheit zu begegnen. Das erfordert in erster Linie, durch unser eigenes Leben ein glaubwürdiges Zeugnis abzulegen. Wie der heilige Antonius von Padua sagte: „Das Wort hat Macht, wenn es von Taten begleitet wird.“1 Der heilige Josefmaria betonte, dass ein Christ durch sein tägliches Leben ein Zeugnis des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe geben soll – einfach und unspektakulär. So bezeugt er die ständige Gegenwart der Kirche in der Welt, denn jeder Katholik ist ein vollwertiges Glied des Volkes Gottes.2
Den Glauben durch das eigene Beispiel weitergeben, bedeutet nicht, dass Christen perfekt sein müssen. Unsere Mitmenschen kennen wahrscheinlich einige unserer Schwächen sowie kleine oder große Widersprüche zwischen dem, was wir lehren, und dem, was wir leben. Entscheidend ist jedoch nicht ein makelloses Leben – denn dieses ist unmöglich. Vielmehr können selbst die Widersprüche, wenn wir sie in Demut anerkennen und mit Gottes Hilfe daran arbeiten, ein Licht für andere sein. Sie sehen dann, dass das christliche Ideal nicht darin besteht, perfekt zu sein, sondern darin, Christus immer ähnlicher zu werden. Gerade aufgrund unserer Unzulänglichkeiten können andere erkennen, dass es möglich ist, Gott nahe zu sein, weil seine Liebe bedingungslos ist. Heiligkeit ist schließlich und endlich kein Ziel, das man über Nacht erreicht, sondern ein lebenslanger Weg.
WEH EUCH, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Recht, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen (Mt 23,23). Mit diesen Worten prangert Jesus jene an, die Nebensächliches überbetonen und das wahrhaft Wichtige aus den Augen verlieren. Einige Schriftgelehrte und Pharisäer hatten zahlreiche menschliche Vorschriften eingeführt, die mit dem göttlichen Gesetz nichts zu tun hatten. Daraus entstand eine detaillierte Kasuistik darüber, was erlaubt war und was nicht. Diese Bemühungen zeugten von Stolz und Selbstgefälligkeit. Möglicherweise dachten sie, dass die Einhaltung dieser Regeln ausreichte, um das ewige Leben zu erlangen, und vergaßen dabei, dass das Heil ein Geschenk Gottes ist und nicht durch menschliches Handeln verdient werden kann.
Das eigentliche Problem, das Jesus anspricht, ist dabei nicht das Vorhandensein solcher menschlichen Vorschriften an sich – sie mögen durchaus ihren Sinn gehabt haben –, sondern die Tatsache, dass das wesentliche, von Gott gegebene Gesetz vernachlässigt wurde. Einige Mitglieder der jüdischen Obrigkeit hielten sich zwar strikt an die eigenen Regeln, vernachlässigten jedoch die Gerechtigkeit, die Nächstenliebe oder die Barmherzigkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten war in den Hintergrund gerückt; wichtig war es, die Vorschriften peinlich genau zu befolgen.
Diese Haltung ist auch heute noch zu finden. Papst Franziskus wies darauf hin, dass „bei einigen eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen ist, ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten“3. Wir sollten den Herrn darum bitten, sein Gesetz nicht nur äußerlich, sondern mit dem Herzen zu leben und ihm durch unser Handeln zu gefallen. Der heilige Josefmaria riet: „Gib Gott die ,ganze‘ Ehre. – ,Presse‘ mit deinem Willen und dem Beistand der Gnade jede deiner Handlungen bis auf den letzten Tropfen aus, damit nichts darin verbleibt, das nach menschlichem Hochmut oder Selbstgefälligkeit aussieht.“4 Auf diese Weise können wir ein Gesetz vermitteln, das nicht selbstbezogen ist oder sich auf äußere Praktiken stützt, sondern das in erster Linie das Wohl der anderen im Blick hat. Papst Franziskus schrieb in diesem Sinn: „Das Evangelium antwortet auf die tiefsten Bedürfnisse der Menschen. Denn wir alle wurden dafür erschaffen, was das Evangelium uns offeriert: die Freundschaft mit Jesus und die brüderliche Liebe.“5
IN DEN 1960er Jahren lebten zahlreiche Studenten in der Villa Tevere, da sie damals das römische Kolleg vom Heiligen Kreuz beherbergte. Hier erhielten viele Mitglieder des Werkes ihre Bildung. Eines Tages wurden sie angewiesen, sich nicht auf die dekorativen Truhen in der Nähe des Speisesaals zu setzen, um Schäden zu vermeiden. Einige Tage später fanden sie den heiligen Josefmaria lächelnd auf einer der Truhen sitzen, während er mit dem Schuhabsatz darauf klopfte. Er erklärte ihnen, dass diese Anweisung ein Ausdruck der Armut sein sollte, weil so viele Menschen im Haus lebten, fügte aber hinzu, dass es nichts Schlimmes sei, wenn sie sich hin und wieder auf die Truhen setzten, wenn ihnen danach war. Er betonte: „Wir sind nicht kleinlich, was die Armut oder die Ordnung oder die kleinen Dinge anlangt, meine Kinder. Wir tun alles aus Liebe zu Gott!“6
Manchmal neigen wir dazu, durch übertriebene Genauigkeit – auch in spirituellen Dingen – eher unser eigenes Gewissen zu beruhigen, als Gott zu gefallen. Dabei kann unser Umgang mit dem Herrn leicht formalistisch werden. Der heilige Josefmaria pflegte zu sagen, dass „Heiligkeit die lockere Art entspannter Muskeln hat. Wer heilig werden möchte, versteht es, unverkrampft zu sein: Während er etwas, das ihm unangenehm ist, tut, unterlässt er fröhlich und dankbar etwas anderes, das ihm auch schwerfällt – solange es sich dabei nicht um eine Beleidigung Gottes handelt. Würden wir Christen anders handeln, liefen wir Gefahr, starr und leblos wie Puppen zu werden. Heiligkeit hat nicht die Starrheit von Pappmaché – sie kann lächeln, ist flexibel und kann warten. Sie ist Leben: übernatürliches Leben.“7
Der heilige Franz von Sales warnte die spätere heilige Jeanne de Chantal schon früh vor der möglichen Unfreiheit als Kind Gottes, in die eine Seele sogar noch durch ihren Wunsch nach einem christlichen Leben geraten kann: „Eine Seele, die sich an die Übung der Betrachtung klammert: Unterbrich sie, und du wirst sehen, dass sie geschmerzt, ängstlich und verwirrt herauskommt. Eine Seele, die wahre Freiheit besitzt, wird dem aufdringlichen Menschen, der sie unterbrochen hat, mit einem entspannten Gesicht und einem warmen Herzen begegnen, denn es ist ein und dasselbe: Gott zu dienen, indem man betrachtet, oder ihm zu dienen, indem man seinen Nächsten erträgt; beides ist Gottes Wille – und das Ertragen des Nächsten ist in diesem Moment das Richtige.“8 Wir bitten unsere Mutter Maria, uns zu helfen, ihren Sohn auf eine Art und Weise zu behandeln, die frei ist von Formalitäten und erfüllt von echter und einfacher Liebe.
1 Hl. Antonius von Padua, Predigten, I, 226.
2 Vgl. hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 53.
3 Franziskus, Evangelii Gaudium, Nr. 95.
4 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 784.
5 Franziskus, Evangelii Gaudium, Nr. 265.
6 Hl. Josefmaria, zitiert in Pilar Urbano, El hombre de Villa Tevere, Plaza Janés, Barcelona 1995, S. 225.
7 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 156.
8 Hl. Franz von Sales, Brief an die Baronin von Chantal, 14.10.1604.