JESUS dürfte einen sehr friedvollen Charakter gehabt haben, denn die Kinder näherten sich ihm ohne Scheu. Zudem predigte er unermüdlich, dass das Reich Gottes den Friedfertigen gehört. Daher können uns die scharfen Worte, die er manchmal wählte, überraschen und verwirren. Nicht nur aus inhaltlichen Gründen, sondern auch wegen des strengen Tons, den er gegenüber manchen religiösen Führern anschlug, die sich, getrieben von ihrer Eitelkeit, als Vorbilder von Tugenden darstellten, die sie nicht wirklich lebten. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie getünchte Gräber, die von außen schön aussehen, innen aber voll sind von Knochen der Toten und aller Unreinheit (Mt 23,27-32).
Wenn man die Evangelien betrachtet, wird schnell klar, wie viel Geduld Jesus gegenüber den unterschiedlichsten Menschen zeigte: Er kümmerte sich liebevoll um die Kranken, umarmte die Sünder mit seiner Barmherzigkeit und hatte für die Armen wie für die Reichen ein mitfühlendes und aufmerksames Herz. Doch Heuchelei – das Streben, als etwas zu erscheinen, was man nicht ist – oder die Beinflussbarkeit durch das Gerede der Leute standen im Widerspruch zu seinem einfachen und demütigen Wesen. Eine der wenigen Gelegenheiten, in der wir Jesus jemanden loben hören, ist das Eintreffen Natanaëls. Da Natanaël – ungeschützt und undiplomatisch – sein Herz geöffnet hatte, als er erstmals von Jesus hörte – Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen? (Joh 1,46) –, lobt Jesus seine Aufrichtigkeit vor den anderen Aposteln: Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist (Joh 1,47).
Es ist bemerkenswert, dass dies einer der ersten Sätze ist, die unser Herr der Überlieferung nach zu seinen Jüngern spricht. Vielleicht wollte er ihnen damit sagen, dass die Nachfolge mit Begrenzungen und menschlichen Schwächen vereinbar ist und Irrtümer und Fehltritte keine Hindernisse darstellen, dass die Aufrichtigkeit aber unverzichtbar ist. Die Durchsichtigkeit des Charakters, der Motive, der Gedanken ist die beste Voraussetzung, um ihm auf seinen Fußspuren zu folgen und mit ihm eins zu werden. So schilderte der heilige Josefmaria mit ein paar Zügen das Zeugnis eines Christen: „Zeige den Menschen durch dein Verhalten als christlicher Bürger den Unterschied zwischen einem Leben in Traurigkeit und einem Leben in Freude, zwischen Angst und Mut, zwischen Verschlagenheit, Doppelzüngigkeit oder Heuchelei und der Einfachheit eines Menschen aus einem Guss. Mit einem Wort: zwischen Verweltlichung und Gotteskindschaft.“1
WAS treibt mich an? Diese Frage hilft uns, unserem Leben eine klare Richtung und Einheit zu geben. Jede Handlung, jedes Wort und auch das, was wir unterlassen, spiegelt die Identität wider, die wir schrittweise aufbauen möchten. In der Gewissenserforschung prüfen wir, inwieweit all unser Tun von der Absicht geleitet ist, Gott und unsere Mitmenschen immer mehr zu lieben. Denn es könnte eine Kluft entstehen zwischen dem, wie wir nach außen erscheinen, und dem, was wir im Herzen tragen: Ihr erscheint von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit (Mt 23,28).
„Das ganze Panorama unserer christlichen Berufung, die Einheit des Lebens, deren neuralgischer Punkt die Gegenwart von Gott Vater ist, kann und soll tägliche Wirklichkeit sein.“2 Damit sich kein Hauch von Heuchelei in unser Herz einschleicht, kann es uns helfen, alle Entscheidungen prinzipiell in der Gegenwart Gottes zu treffen. Wenn wir uns bewusst sind, dass ein liebender Vater auf uns schaut, dass Jesus, unser bester Freund, bei uns ist und wir Träger des Heiligen Geistes sind, wird unser externes Verhalten fast von selbst eine Äußerung der Liebe sein, die uns erfüllt. Die Kohärenz unseres Denkens und Tuns, die aus dieser Einheit des Lebens entsteht, ist kein glücklicher Zufall, sondern wächst aus Überzeugungen, die tief in unserem Herzen verankert sind und die wir nicht aufgeben wollen.
Die Autorität, die jeden Christen auszeichnet, betonte Papst Franziskus, „besteht nicht darin, Befehle zu erteilen und sich Gehör zu verschaffen, sondern darin, kohärent zu sein, ein Zeuge und somit Begleiter im Herrn zu sein“3. Ohne diese Kohärenz kann es kein echtes Apostolat geben, denn alles, was wir nach außen vermitteln würden, käme aus einem leeren Herzen. Daher sollten wir uns in unserem Gebet fragen, ob die Liebe zu Gott und der Wunsch, ihn zu verherrlichen, wirklich der Motor ist, der unsere Gedanken und Gefühle leitet.
DIE LIEBE zu Christus verleiht unserem Denken, Fühlen und Handeln eine tiefe Harmonie. Wenn der Herr im Zentrum unseres Lebens steht, fällt es uns leichter, in unserem Umgang mit anderen Menschen authentisch und kohärent zu wirken. Natürlich passen wir unser Verhalten an die verschiedenen Situationen an – ein Tag mit der Familie ist nicht das Gleiche wie ein Arbeitstreffen, und das Vertrauen zu Freunden ist anders als das gegenüber Fremden. Doch die Anpassung soll uns nicht dazu verleiten, unsere Identität zu verbergen oder aus den Augen zu verlieren, was unserem Leben Sinn gibt: die Liebe Jesu.
Der Wunsch, in allen Situationen einundderselbe Mensch zu sein, führt uns zu einer Tugend, die dem heiligen Josefmaria besonders am Herzen lag: die Natürlichkeit. Er schrieb einmal: „Wer einzig und allein zur Ehre Gottes arbeitet, handelt einfach und natürlich, wie jemand, der es eilig hat und sich nicht mit ‚großen Gesten‘ aufhält, um die kostbare Nähe des Herrn keinesfalls zu verlieren.“4 Unser Ziel ist nicht, Gutes zu tun, um Anerkennung oder Lob zu ernten. Vielmehr wollen wir, dass unsere Werke die Herrlichkeit Gottes widerspiegeln und andere dazu bringen, ihn kennenzulernen, während wir selbst im Hintergrund bleiben. Genau das fordert Jesus von uns: So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen (Mt 5,16).
Wahre Natürlichkeit und Beständigkeit erfordern auch, dass wir keine Angst haben, unsere Fehler und Schwächen einzugestehen. Sonst laufen wir Gefahr, wie manche Pharisäer und Schriftgelehrten in einer Welt des Wunschdenkens zu leben. Sie mussten von Jesus hören: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Blut der Propheten schuldig geworden (Mt 23,29-30). Ihr Bestreben, ein perfektes Bild von sich selbst zu wahren, ließ sie ihre Schwächen verbergen. Doch wir wissen, dass selbst unsere Schwächen die Herrlichkeit Christi widerspiegeln können, denn er ist unser Erlöser. Wie Maria wagen wir zu sagen: Siehe, ich bin die Magd des Herrn (Lk 1,38), im Bewusstsein, dass in dieser demütigen Wahrheit unser wahrer Reichtum liegt, auch wenn sie in den Augen der Welt unscheinbar erscheinen mag.
1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 306.
2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 11.
3 Franziskus, Tagesmeditation, 14.1.2020.
4 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 555.