Betrachtungstext: 20. Woche im Jahreskreis – Freitag

Das Heilige in uns lieben – Sich freuen und leiden mit der Kirche – Eine bedingungslose Liebe

DIE FÜHRENDEN VERTRETER Israels stellten Jesus häufig Fragen, um seine Gesetzestreue und Integrität zu testen. Nachdem er einmal eine komplexe Frage zur Auferstehung beantwortet hatte, traten die Pharisäer mit einer direkten und herausfordernden Frage an ihn heran: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?Ohne zu zögern antwortete Christus: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,36-40).

Jesu Antwort erinnerte seine Zuhörern an die bekannten und vertrauten Verse aus dem Buch Deuteronomium: Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst (Dt 6,5-7). Jesus fügte jedoch noch ein zweites Gebot hinzu: Wir sollen den Nächsten lieben wie uns selbst. Auch diese Aufforderung war nicht völlig neu, denn bereits im Buch Levitikus heißt es: An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Lev 19,18). Überraschend kann für uns aber immer wieder der Maßstab sein: Wir sollen andere so lieben, wie wir uns selbst lieben. Vielleicht wäre uns wohler, wenn der Bezug objektiver und verlässlicher wäre, beispielsweise wenn es hieße, andere so zu lieben, wie Gott sie liebt, oder wie heilige Menschen Gott lieben.

Doch die Aufforderung, den Nächsten so zu lieben, wie wir uns selbst lieben, bedeutet, ihn wie das Heiligste und Innerste in uns zu lieben, und dies ist die Tatsache, dass Gott uns zuerst geliebt hat. So verstanden es auch die Apostel. Johannes schreibt: Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben (…). Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet (1 Joh 4,11-12). Wir teilen mit anderen das, was uns stolz macht: die Tatsache, dass wir geliebte Töchter und Söhne Gottes sind. Das ist der Grund und das Maß unserer Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern.


ÜBER DIE Jahrhunderte hinweg hat Israel immer wieder darüber nachgedacht, wer „der Nächste“ ist, den es zu lieben gilt. Diese Frage war auch zur Zeit Jesu noch sehr lebendig. Der Evangelist Lukas berichtet, dass einer der Zuhörer Christus direkt fragte, wer dieser Nächste sei. Jesus antwortete darauf mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 22,35-27). Für uns Getaufte sind vor allem die anderen Glieder der Kirche unsere nächsten Nächsten. Wenn wir aufgerufen sind, in unseren Mitmenschen das zu lieben, was wir auch in uns selbst lieben, wie viel mehr sollten wir dann diejenigen lieben, die den Glauben mit uns teilen!

Die geheimnisvolle Vision im Buch Ezechiel ist ein kraftvolles Bild für die Kirche. Papst Franziskus erklärt dazu: „Stellt euch eine ganze Fläche voller Gebeine vor! Dann bittet Gott Ezechiel, den Geist auf sie herabzurufen. Da beginnen die Gebeine sich zu bewegen, zusammenzurücken und sich zu verbinden. Sehnen und Fleisch wachsen an ihnen, und sie bilden einen vollständigen Leib, der mit Leben erfüllt ist (vgl. Ez 37, 1-14). Das ist die Kirche! Ich bitte euch: Nehmt heute eure Bibel her, schlagt das 37. Kapitel beim Propheten Ezechiel auf und lest es: Es ist wunderschön. Das ist die Kirche, ein Meisterwerk des Geistes, der das neue Leben des Auferstandenen in einen jeden von uns eingießt und uns einander zur Seite stellt, damit der eine dem anderen dient und ihm beisteht. So formt er aus uns allen einen Leib, erbaut in der Gemeinschaft und in der Liebe.“1

Es ist daher nur natürlich, dass wir die Freuden und Leiden der Kirche wie unsere eigenen empfinden. Wir möchten in der Lage sein, kleine Unterschiede und Missverständnisse zu überwinden. Es geht hier nicht um die Belange einer großen menschlichen Organisation mit guten Absichten, sondern um das Schicksal des mystischen Leibes Christi. Der heilige Josefmaria schrieb einmal: „Ich wünschte – hilf mir mit deinem Gebet –, dass wir uns in der heiligen Kirche alle als Glieder eines einzigen Leibes fühlten, wie der Apostel es von uns fordert, und dass wir die Freuden, die Bedrängnisse, die Ausdehnung unserer Mutter, der einen, heiligen, katholischen, apostolischen, römischen Kirche, voll und ganz teilten, ohne gleichgültig zu bleiben. Ich wünschte, dass wir das Einssein der einen mit den anderen und aller mit Christus lebten.“2

Und weil wir alle Menschen lieben, ist es nur natürlich, dass wir wollen, dass viele zur Kirche finden, um sich von Gott berühren zu lassen und zur Quelle des Lebens zu gelangen, die das wahre Glück schenkt. Der heilige Josefmaria bekannte: „Ich bitte den Herrn täglich darum, mein Herz zu weiten, damit er die Liebe, die er in meiner Seele für alle Menschen entfacht – unabhängig von Rasse, Volk, kulturellem Hintergrund und Vermögen –, in eine übernatürliche Liebe verwandelt. Ich schätze alle aufrichtig: Katholiken und Nichtkatholiken, jene, die an etwas glauben, und jene, die nichts glauben und die mich traurig machen. Aber Christus hat nur eine Kirche gegründet, Christus hat nur eine Braut.“3


SIE, DIE umherirrten in der Wüste, im Ödland, und den Weg zur bewohnten Stadt nicht fanden, die Hunger litten und Durst, denen das Leben dahinschwand. Sie schrien zum Herrn in ihrer Bedrängnis und er entriss sie ihren Nöten, er führte sie auf geraden Wegen, sodass sie zur bewohnten Stadt gelangten (Ps 107,4-7). Vielleicht erleben auch wir manchmal ähnliche Situationen, in denen wir das Gefühl haben, dass unser Leben ins Stocken gerät, dass Hunger und Durst nach dem Wesentlichen zunehmen, und dass das, worauf wir am meisten stolz sein sollten, allmählich verblasst. In solchen Momenten schließen wir uns dem Psalmisten an und rufen zum Herrn, denn wir wollen seine Liebe zu uns nicht aus den Augen verlieren. Obwohl Gottes Liebe zu uns vollkommen ist, bleibt unsere Wahrnehmung dieser Liebe manchmal unvollkommen und begrenzt.

Papst Franziskus sagte: „Der erste Schritt, den Gott auf uns zu macht, ist der einer vorausgehenden und bedingungslosen Liebe. Gott liebt als Erster. Er liebt uns nicht, weil es in uns etwas gibt, das seine Liebe erweckt. Gott liebt uns, weil er selbst die Liebe ist, und Liebe neigt von ihrem Wesen her dazu, sich zu verbreiten und sich hinzugeben. Gott knüpft sein Wohlwollen nicht einmal an unsere Umkehr: Diese ist vielmehr eine Folge seiner Liebe.“4 Es ist wichtig, dass wir uns die Eingriffe des Herrn in unser Leben und in unseren Alltag immer wieder ins Gedächtnis rufen. So beten wir in einem der Danksagungsgebete: „Gott, unser Vater, du Ursprung alles Guten, was wir sind und haben, kommt von dir. Lehre uns, die Wohltaten deiner Güte zu sehen, und gibt, dass wir dich mit aufrichtigem Herzen und mit allen unseren Kräften lieben.“5 Die Dankbarkeit lässt uns entdecken, dass der Herr auch in Zeiten des Hungers und Dursts in der Wüste weiterhin über uns wacht. Indem wir dieses dankbare Gedächtnis pflegen, finden wir das Leben wieder, wenn es uns entgleitet. Wir bitten die Jungfrau Maria, uns zu helfen, die bedingungslose Liebe ihres Sohnes anzunehmen, der uns auf unserem irdischen Weg stets unterstützt und beschützt.


1 Franziskus, Audienz, 22.10.2014.

2 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 630.

3 Hl. Josefmaria, Loyal zur Kirche, Nr. 4, en Amar a la Iglesia.

4 Franziskus, Audienz, 14.6.2017.

5 Römisches Missal, Tagesgebet, Danksagungsmesse.