Betrachtungstext: 2. Sonntag nach Weihnachten

Das Wort ist Fleisch (=Mensch) geworden, damit wir es hören können. - Das Evangelium jedes Tages leben. - Ein paar Minuten des Tages der Lesung des Evangeliums widmen.

IM ANFANG war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott (Joh 1,1). Heute verkündet die Liturgie von neuem während der Messe den Prolog des Evangeliums von Johannes. Es ist ein so reicher Text, dass es keine Mühe ist, ihn mehrmals zu betrachten, um in seine Bedeutung weiter einzudringen.

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohns vom Vater, voll Gnade und Wahrheit (Joh 1,14). Die ganze Größe Gottes hat sich in einem neugeborenen Kind konzentriert. Gott hat zu uns gesprochen, uns sein Wort gesandt, sich an jeden Einzelnen gewendet. Aber seine Herrlichkeit blendet uns nicht; denn sie ist einfach, demütig, diskret. Wer seine Stimme nicht hören will, muss sich nicht die Ohren zuhalten, denn das Kind gibt kaum einen Laut von sich. Es wird in einem verborgenen Stall geboren, damit sich niemand verpflichtet fühlt, ihm Gesellschaft zu leisten. Nur jene werden es finden, die es frei aufnehmen wollen. Wir können die Jungfrau Maria, den heiligen Josef und unseren Schutzengel bitten, sie mögen unseren Wunsch vermehren, das Kind zu suchen, Umgang mit diesem Kind zu haben, uns von ihm lieben zu lassen und seine zarte Stimme zu hören. Wir wollen uns von der Gnade und der Wahrheit, die dieses Wort enthält, erfüllen lassen. Es hat eine Botschaft an uns gerichtet, die wir bewahren wollen: Gott liebt uns, er rettet uns und möchte mit uns rechnen, damit seine Liebe bis in den letzten Winkel der Erde gelangt. Auf, gehen wir hinüber nach Bethlehem – zu dem Gott, der uns entgegengegangen ist. Ja, Gott hat sich auf den Weg zu uns gemacht. Wir könnten von uns aus nicht zu ihm kommen. Der Weg übersteigt unsere Kraft. Aber Gott ist herabgestiegen. Er geht uns entgegen. Er ist das größere Stück des Weges gegangen. Nun bittet er uns: Kommt und seht, wie ich euch liebe. Kommt und seht, daß ich da bin.Transeamus usque Bethleem, heißt es in der lateinischen Bibel1.


DIE GNADE und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus – heißt es im Evangelium nach Johannes weiter–. Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht (Joh 1,17.18). In Christus können wir die Wahrheit und die Güte Gottes erkennen. Und um Jesus Christus näher zu kommen, um seine heiligste Menschheit zu betrachten, um mit ihm wie mit einem Freund Umgang zu haben und seinen Spuren zu folgen, ist es notwendig, das Evangelium zu lesen und zu betrachten. Der heilige Josefmaria machte auf den Straßen von Madrid eine überraschende Erfahrung; er schreibt, an einem Tag im Jahr 1931: Gestern früh in der Santa Engracia-Straße, als ich unterwegs zu Romeo war und, wie vorgesehen, das zweite Kapitel des Lukas-Evangeliums las, traf ich auf eine Gruppe von Arbeitern. Obwohl ich ziemlich in meine Lektüre vertieft war, hörte ich, dass sie laut miteinander sprachen und sich ohne Zweifel fragten, was wohl der Priester lesen würde. Und einer dieser Männer antwortete auch mit lauter Stimme: ’Das Leben Jesu Christi’. Da meine Evangelien in einem kleinen Buch enthalten sind, das ich immer in der Tasche trage, und dessen Umschlag mit Stoff eingebunden ist, konnte dieser Arbeiter nur durch Zufall, dank der Vorsehung die richtige Antwort treffen. Und ich dachte und denke: Wären doch mein Verhalten und meine Gespräche so, dass alle, die mich sehen oder sprechen hören, sagen könnten: Dieser liest das Leben Jesu Christi2. Das Leben Jesu Christi zu lesen, hilft uns, in Einklang mit dem Willen Gottes zu gelangen. Es ist ein Wort, das nicht gleichgültig lässt; es hat eine unendliche verwandelnde Macht, denn es ist lebendig. Wenn wir es empfangen, ändert es uns. Wenn wir es annehmen, dann belebt es uns. Der heilige Josefmaria empfahl, das Evangelium mit einer aktiven Haltung zu lesen, um zu erleichtern, dass das Wort Gottes immer mehr unseren Alltag umformt: Wenn du das Evangelium aufschlägst, mach dir klar, dass du die Berichte über die Taten und Worte Christi nicht nur kennen, sondern auch wirklich selbst ’erleben’ sollst. Jede Szene enthält sehr viele Einzelheiten, die du auf die konkreten Umstände deines Lebens übertragen kannst. Der Herr hat uns Katholiken dazu berufen, Ihm von nahem zu folgen. Im heiligen Text des Evangeliums findest du das Leben Jesu ‒ aber auch dein eigenes Leben sollst du dort finden3.


DAS WAHRE Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt (Joh 1,9). Angespornt von diesen Worten des heiligen Johannes, bitten wir heute den Herrn, dass der Glanz der Wahrheit unser Leben leiten möge; dass er uns immer mehr fähig macht, die Worte, Gesten und Handlungen des Meisters als an jeden Einzelnen von uns gerichtet zu erkennen; dass wir lernen, uns in die Szenen der Evangelien zu versetzen, um den Tag mit Jesus auf seinen Wegen durch Galiläa und Judäa zu verbringen. Wir wollen so Zeugen seiner Wunder und Heilungen sein; wir wollen ihn von der bedingungslosen und unendlichen Liebe seines Vaters zu uns sprechen hören. Um in das Leben des Herrn einzutreten, müssen wir jeden Tag etwas Zeit für die Lesung des Evangeliums widmen. Der Sonntag des Wortes Gottes ist eben dazu eingeführt worden: die Christen einmal mehr an den großen Wert, den dieses Wort in unserer alltäglichen Existenz einnimmt, zu erinnern. Geben wir dem Wort Gottes in uns Raum! Lesen wir täglich einige Verse der Bibel. Beginnen wir beim Evangelium: Lassen wir es offen auf dem Nachttisch liegen, tragen wir es in der Tasche oder in der Handtasche mit uns, öffnen wir es auf dem Handy, lassen wir zu, dass es uns jeden Tag inspiriert. So werden wir entdecken, dass Gott uns nahe ist, dass er unser Dunkel hell macht und dass er in Liebe unser Leben hinaus ins Weite führt4. Vielleicht kann es ein guter Vorsatz für das Jahr sein, das gerade begonnen hat, durch die Lesung des Evangeliums zu erfahren und zu sehen, wie gut der Herr ist. Wir bitten den Heiligen Geist, er möge uns lehren, dadurch das göttliche Flüstern zu hören, das uns spüren lässt, dass wir begleitet, angeregt und verstanden sind.

Die Jungfrau Maria hat das Wort am besten empfangen und es ist Fleisch von ihrem Fleisch geworden. An ihr gehen die Worte des heiligen Johannes vollkommen in Erfüllung: Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden (Joh 1,12). Maria hat verstanden, dass dieses Wort für sie war: an jenem Tag, an dem der heilige Erzengel Gabriel zu ihr kam, und an jedem Tag ihres Lebens.


1 Benedikt XVI., Homilie, 24.12.2009.

2 Hl. Josefmaria, Apuntes íntimos, Cuaderno V, Nr. 521 (30.12.1931).

3 Ders., Im Feuer der Schmiede, Nr. 754.

4 Papst Franziskus, Homilie am Sonntag des Wortes Gottes, 26.1.2020.