Betrachtungstext: 19. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Gott hat die brüderliche Zurechtweisung praktiziert – Ein Beweis der Liebe und des Vertrauens – Frieden und Klugheit

DIE WERKE der Barmherzigkeit laden uns ein, aus uns herauszugehen und unseren Brüdern und Schwestern mit offenen Armen zu begegnen. Der Katechismus erinnert daran, dass sie „Liebestaten sind, durch die wir unserem Nächsten in seinen leiblichen und geistigen Bedürfnissen zu Hilfe kommen (Is 58,6-8 und Hebr 13,3). Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen sind geistliche Werke der Barmherzigkeit.“1 Sie lehren uns, die anderen mit den Augen Gottes zu sehen und nur ihr Wohl zu suchen. Eines dieser geistlichen Werke der Barmherzigkeit besteht darin, diejenigen zurechtzuweisen, die Unrecht tun. Gerade weil wir nur das Wohl unserer Brüder und Schwestern suchen, möchten wir sie nicht nur unterstützen, ihnen dienen, für sie beten usw., sondern ihnen auch so weit wie möglich helfen, sich von der Sünde abzuwenden, oder sie sanft ermutigen, einen Fehler auszumerzen.

Wie wir im Alten Testament lesen, hat Gott selbst diesen Brauch in die Tat umgesetzt, „so oft die Menschen entschlossen waren – und wir können sagen, dass wir entschlossen sind –, den Weg des Bösen zu beschreiten. Die Geschichte des auserwählten Volkes ist ein deutlicher Beleg für diese göttliche Fürsorge“, sagte der damalige Prälat des Werkes, Javier Echevarría. „In vielen Situationen hätte Jahwe sie aus seiner Hand entlassen können, aber stets zog er sie – manchmal mit Strafen, manchmal mit Warnungen der Propheten – wieder an sich und führte sie auf den Weg des Heils (...). Im Evangelium sehen wir, dass Jesus Christus nicht davor zurückschreckt, diejenigen zurechtzuweisen und zu korrigieren, die er auf den rechten Weg führen möchte; nicht nur die Pharisäer, die seine Botschaft ablehnten, sondern auch seine Freunde: Petrus, sogar hart, als der Apostel ihm nahelegt, den Leidensweg zu meiden; oder Martha in Bethanien, sanft, weil sie sich zu sehr um die Hausarbeit sorgte. Der Herr verstand es, den Ton und die Sprache einzusetzen, die zu jeder Person am besten passte.“2 Bitten wir Gott um einen Blick, der, wie Papst Benedikt sagte, „erkennt und anerkennt, der unterscheidet und vergibt (vgl. Lk 22,61), wie es Gott mit jedem von uns getan hat und tut“3.


IN DEN RAHMEN der göttlichen Barmherzigkeit fällt der evangelische Brauch der brüderlichen Zurechtweisung, der aus einer echten Sorge um das Heil und die Heiligkeit der anderen erwächst. Wir finden bereits im Alten Testament Hinweise darauf. So heißt es bei Jesus Sirach: Stelle den Freund zur Rede! – Vielleicht hat er nichts getan. Und wenn er etwas getan hat, setze er es nicht fort. Stell den Nächsten zur Rede! – Vielleicht hat er nichts gesagt. (...) Stell den Nächsten zur Rede, bevor du drohst! (Sir 19,13-4.17). Im Rahmen einer Rede über den Dienst an den Geringsten und die grenzenlose Vergebung stellt Jesus die Weichen für dieses Werk der Barmherzigkeit: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen (Mt 18,15).

Auf der Grundlage der Lehre und des Beispiels des Herrn ist die brüderliche Zurechtweisung eine Tradition der Christenfamilie. Sie erweist sich als echte Notwendigkeit, als Verpflichtung der Liebe und zugleich der Gerechtigkeit. Der heilige Ambrosius schrieb im 4. Jahrhundert: „Merkt man am Freund irgendeinen Fehler, über den man als Zeuge sprechen soll, übe man die Zurechtweisung geheim (...). Zurechtweisungen sind gut und manchmal besser als stumme Freundschaft. Und sollte der Freund sich verletzt fühlen: Du weise ihn dennoch zurecht! Und tut das Bittere der Zurechtweisung seinem Herzen weh: Du weise ihn dennoch zurecht und fürchte dich nicht! Denn in den Sprichwörtern heißt es: Erträglicher sind Freundeswunden als Schmeichlerküsse (Spr 27,6).“4 Die brüderliche Zurechtweisung ist auch ein konkreter Ausdruck der Gemeinschaft der Heiligen: Da wir einen Leib bilden und nicht gleichgültig demgegenüber sind, was unseren Mitmenschen widerfährt, helfen wir ihnen mit unserem Rat, wo immer es möglich und sinnvoll ist. So können sie, Schwierigkeiten oder Gefahren, denen sie begegnen, leichter überwinden. Wir wollen uns um unsere Brüder und Schwestern kümmern, wie Christus es getan hat, und an ihrem Heil mitwirken, damit niemand verloren geht (Joh 17,12). Der heilige Augustinus weist auf die große Verantwortung hin, die es bedeutet, diese Hilfe zu unterlassen: „Schlimmer bist du, der du schweigst, als der, der sich verfehlt.“5

Die Haltung, mit der die brüderliche Zurechtweisung erfolgt, ist immer feinfühlig und umsichtig, mit Worten, die von echter Zuneigung und wahrem Verständnis zeugen und die es vermeiden, den Zurechtgewiesenen zu demütigen. Auf diese Weise wird sie nicht als Urteil, sondern als Dienst empfunden, als „ein Freundschaftserweis im Zeichen des Glaubens und ein Beweis von Vertrauen“6, wie der heilige Josefmaria sagte. Daher ist es gut, vorher im Gebet mit dem Herrn darüber zu sprechen und unser eigenes Herz zu prüfen, um zu erkennen, dass wir die ersten sind, die der Korrektur bedürfen. Ebenso wollen wir entdecken, ob es neben dem Wunsch zu helfen auch noch andere Absichten gibt, die nicht so heilig sind. Papst Franziskus lehrte: „Die oberste Regel der geschwisterlichen Zurechtweisung ist die Liebe: das Wohl unserer Brüder und unserer Schwestern wollen. Es geht darum, die Probleme der anderen, die Verfehlungen der anderen stillschweigend im Gebet zu ertragen, um dann den richtigen Weg zu finden, ihm zu helfen, sich selbst zu verbessern.“7


DER HEILIGE Josefmaria empfahl bei der Ausübung der brüderlichen Zurechtweisung: „Tut alles in Einfachheit, denn das ist eine Tugend der echten Kinder Gottes. Redet und handelt mit Natürlichkeit. Geht den Dingen auf den Grund, wenn ihr ein Problem seht, und bleibt nicht an der Oberfläche. Und seid euch schon im Voraus darüber im Klaren, dass wir mit einem Unbehagen beim anderen und bei uns selbst rechnen müssen, wenn wir unseren Christenpflichten heiligmäßig und ernsthaft nachkommen wollen.“8

Die brüderliche Zurechtweisung ist eine Geste der Ehrlichkeit gegenüber der anderen Person, denn anstatt sie hinter ihrem Rücken zu kritisieren, sagen wir ihr von Angesicht zu Angesicht, auf freundliche Weise, was sie unserer Meinung nach ändern könnte. Papst Franziskus sagte: „Doch leider ist das Erste, was im Umfeld derer entsteht, die Unrecht tun, Klatsch und Tratsch, wo jeder von dem Fehler erfährt, mit allen Einzelheiten, außer der betroffenen Person! Das ist nicht richtig, Brüder und Schwestern, das gefällt Gott nicht. Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass Klatsch und Tratsch eine Plage für das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaften sind, denn sie bringen Spaltung, sie bringen Leid, sie bringen Skandal, und sie helfen nie, sich zu bessern, sie helfen nie, zu wachsen.“9 Es ist schwierig, die brüderliche Zurechtweisung zu erteilen und zu empfangen, weil es bedeutet, einem anderen nahezutreten, es kann einem peinlich sein und es kann sogar scheinen, dass der andere tief in seinem Innern Gründe für ein bestimmtes Verhalten hat. Und dennoch ist es auch wahr, dass Gott diese brüderliche Hilfe segnet und sie im Herzen eine Frucht des Friedens hinterlässt. Derjenige, der sie ausübt, ist von Frieden erfüllt, weil er, anstatt ein Gerede zu veranstalten, versucht, einem Bruder zu helfen; und derjenige, der sie empfängt, weiß, dass er das Gebet und die Zuneigung von jemandem hat, der sich um sein Wohl sorgt.

Die Tugend der Klugheit spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Art und Weise des Erteilen oder Empfangen der Zurechtweisung zu erkennen. Im Allgemeinen wird uns die Klugheit dazu bringen, eine weise Person um Rat zu bitten, wenn es um den richtigen Zeitpunkt geht, und zu verstehen, dass die Zurechtweisung sich auf das beziehen sollte, was wirklich nötig und wichtig ist, und nicht auf Bagatellen oder gelegentliche Fehler. Ebenso wird uns die Klugheit dazu bringen, nicht allzu oft auf dieselben Fehler hinzuweisen, denn wir alle brauchen Zeit und Gottes Gnade, um uns zu bessern. Wir bitten Maria, die wir als kluge Jungfrau verehren, darum, dass wir uns auf unserem christlichen Weg gegenseitig unterstützen, im Bewusstsein, dass frater qui adjuvatur a fratre quasi civitas firma (Vulgata, Prov 18,19) ist – dass ein Bruder, dem der Bruder hilft, wie eine befestigte Stadt ist.


1 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2447.

2 Javier Echevarría, Podcast Corregir al que se equivoca (auf www.opusdei.es).

3 Benedikt XVI., Botschaft, 3.11.2011.

4 Hl. Ambrosius, Von den Pflichten der Kirchendiener, 3. Buch, Nr. 128.

5 Hl. Augustinus, Sermo 82, Nr. 7.

6 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 566.

7 Franziskus, Audienz, 3.11.2021.

8 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 160.

9 Franziskus, Angelus-Gebet, 10.9.2023.