IM HEUTIGEN EVANGELIUM begegnen wir Jesus am Opferkasten des Tempels in Jerusalem. In diesem Bereich des Tempels, der als „Schatzkammer“ bekannt war, befanden sich dreizehn trichterförmige Behälter, in die die Pilger ihre Almosen einwarfen, bevor sie in den Tempel eintraten.
Jesus beobachtet, wie die Leute ihre Gaben einwerfen. Viele Reiche kamen und gaben viel (Mk 12,41), berichtet der Evangelist Markus. Doch es sind nicht die großen Spenden, die die Aufmerksamkeit Jesu fesseln, sondern die kleine Gabe einer armen Witwe, die nur zwei kleine Münzen in den Opferkasten wirft. Was in den Augen der Menschen als gering erscheinen mag, hat für Jesus eine besondere Bedeutung. Er ruft seine Jünger herbei und lehrt sie: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt (Mk 12,43-44).
Die Begebenheit erinnert uns an Jesu Zuwendung zu den Armen und Schwachen: zu den Witwen, Waisen und Fremden, die in der Heiligen Schrift stets hervorgehoben wird. Sie zeigt uns auch, dass Gott die demütige, großzügige Hingabe mehr gefällt als die großen Taten. Die Witwe, so sagte Papst Franziskus, „hätte aus ihrer Armut heraus auch nur eine Münze als Gabe für den Tempel spenden und die andere für sich behalten können. Doch sie wollte mit Gott nicht ,halbe-halbe machen‘ – sie gab alles, was sie besaß. In ihrer Armut hat sie erkannt, dass sie alles hat, wenn sie Gott hat. Sie fühlt sich ganz von ihm geliebt und liebt ihn ebenso“1, indem sie ihm unauffällig das Wenige gibt, das sie besitzt.
WAS DIE WITWE im Tempel opferte, war ihr ganzer Lebensunterhalt (Mk 12,44). Ansonsten wissen wir nichts Näheres über ihr Leben: wie lange sie schon Witwe war, wie sie in dieser Lage zurechtkam, welche Entbehrungen sie auf sich genommen hatte. Vielleicht hatte sie den Tempel als Pilgerziel gewählt und auf dem Weg dorthin fast alle ihre wenigen Mittel aufgebraucht. Doch als sie schließlich ankam, wollte sie Gott nicht nur einen kleinen Rest geben, sondern legte voll Vertrauen alles in seine Hände. Jesus, der in ihrem Herzen lesen konnte, rechnet ihr genau das hoch an: Sie gab nicht nur etwas von sich, sondern gab sich ganz, in der Überzeugung, dass Gott sich um sie kümmern würde.
Im Gegensatz dazu erzählt der Evangelist, dass viele Reiche viel gaben (Mk 12,41). Es schwingt hier ein wenig mit, dass Eitelkeit die großzügigen Spenden begleitet haben könnte, doch das Evangelium geht darauf nicht näher ein. Der wahre Unterschied zur Witwe liegt tiefer, im Innersten der Seele – in dem, was die Bibel das „Herz“ nennt: jenes verborgene Zentrum, der Ort der Entscheidung und Wahrheit, der nur dem Geist Gottes zugänglich ist.2
In ihrem Herzen lebt die Witwe eine vollkommene Hingabe an Gott. Es ist wie ein geistlicher Gottesdienst: Indem sie zwei kleine Münzen gibt, bringt sie sich selbst als heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer dar (Röm 12,1). Die Reichen hingegen, die nicht mit dieser Einstellung kommen, begnügen sich damit, dem Herrn einen Teil dessen zu geben, was sie sind oder haben: in diesem Fall Geld; es könnte aber auch Zeit sein für gute Werke, die Befolgung der Gebote oder sogar Gebet und Opfer. Jesus aber möchte mehr, er möchte, dass wir ihm so geben, wie jene Frau es tat: alles ohne Vorbehalt. Er weiß, dass unser wahres Glück nicht darin liegt, einen Teil für uns zurückzuhalten, sondern darin, Gott alles zu überlassen, um von ihm alles empfangen zu können.
DIE ERSTE LESUNG erzählt uns von einer anderen Witwe, die fast neun Jahrhunderte vor der Zeit Jesu, in Sarepta, einer Stadt im heutigen Libanon zwischen Tyrus und Sidon, lebte. Es herrschte eine Zeit der Dürre und Hungersnot, als der Prophet Elija dorthin kam. Gott hatte ihm versprochen, dass ihn dort eine Witwe versorgen würde. Als er ankam, fand er sie tatsächlich – eine Frau, die mit ihrem Sohn in großer Armut lebte und kaum etwas besaß. Sie hatte gerade noch eine Handvoll Mehl und etwas Öl übrig, genug, um ein letztes Brot zu backen, bevor ihr Vorrat erschöpft war. Dennoch bat Elija sie um das scheinbar Unerhörte: Sie solle das Wenige, das sie hatte, mit ihm teilen. Im Namen des Herrn versprach er ihr, dass der Mehltopf nicht leer werden wird und der Ölkrug nicht versiegen (1 Kön 17,14). Die Witwe erkannte ihn als Mann Gottes und vertraute seinem Wort.
Diese Geschichte aus dem Alten Testament lehrt uns viel über Glauben und freigiebige Solidarität. Sie zeigt, wie segensreich es ist, das Leben mit anderen zu teilen. Der heilige Josefmaria schrieb: „Vielleicht gehörtest du gestern noch zu jenen, die ihre Hoffnungen begraben haben und sich in ihren Erwartungen getäuscht sahen. Doch heute, nachdem er in dein Leben getreten ist – Dank dir, mein Gott! –, lachst du und singst und strahlst Freude und Liebe aus, wohin du auch gehst.“3
Bitten wir Maria darum, uns zu helfen, in den verschiedensten Lebenslagen mehr und mehr auf Gott zu vertrauen, gerade auch wenn wir den göttlichen Ruf spüren, einen neuen Schritt in unserer Hingabe zu tun, etwa uns entschiedener für andere einzusetzen. „Wir müssen mit Hingabe leben, ganz und gar“, sagte der heilige Josefmaria, „unseren Herrn mit all unserer Kraft lieben und wissen, dass es uns in unserer Aufgabe an Opfern und Mühen nicht fehlen wird. Doch ich versichere euch, wenn wir so leben, werden wir sehr glücklich sein: glücklich, aus Gott und für Gott zu leben.“4
1 Franziskus, Angelus-Gebet, 8.11.2015.
2 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2563.
3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 591.
4 Hl. Josefmaria, zitiert in: Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, Rialp, Madrid 2000, p. 83.