DAS EVANGELIUM dieses Sonntags schildert, wie Johannes und Jakobus mit einer mutigen Bitte an den Herrn herantreten: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen! (Mk 10,37). Die Antwort Jesu ist ebenso tief wie die Forderung der Zebedäussöhne kühn: Ihr wisst nicht, worum ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? (Mk 10,38).
Es ist wahrscheinlich, dass sich Johannes und Jakobus durch eine sehr menschliche Sichtweise zu ihrer Bitte hinreißen ließen. Obwohl ihr begrenzter Blickwinkel die Empörung der anderen Apostel auslöst, bitten die beiden Brüder – vielleicht ohne es zu wissen – jedoch um etwas wirklich Großes: an der Seite des Herrn in seinem Reich zu sitzen, seine Herrlichkeit zu sehen und die höchste Nähe zu Gott zu erfahren. Das ist der tiefste Wunsch, den ein Mensch haben kann, wie der Psalmist sagt: Freude in Fülle vor deinem Angesicht, Wonnen in deiner Rechten für alle Zeit (Ps 16,11). Johannes und Jakobus streben nach einem erhabenen Ziel, fragen sich aber nicht, wie sie dieses erreichen können. Jesus macht ihnen klar, dass sie nicht wissen, worum sie bitten, weil sie die Wege dorthin nicht kennen.
In seiner Antwort stellt Jesus nicht das hohe Ziel in Frage, sondern fordert uns auf, über die Mittel nachzudenken, die nötig sind, um beim Ziel anzukommen. Große Wünsche können motivierend sein, doch sie erfordern auch die Entschlossenheit, die notwendigen Schritte zu gehen. Ein Sportler, der olympisches Gold anstrebt, aber nicht bereit ist, den dafür erforderlichen Plan zu befolgen, hat nur einen oberflächlichen Wunsch. Jesus zeigt uns nicht nur das Ziel der Heiligkeit, sondern auch die Wege, die dorthin führen. Seine Einladung schließt sowohl das brennende Verlangen nach dem Reich als auch den Eifer ein, mit seiner Gnade die Mittel zu entdecken und zu nutzen, um dorthin zu gelangen.
Ausgehend von einem Gleichnis Jesu (Lk 14,30) drückte der heilige Josefmaria dies so aus: „Quia hic homo coepit aedificare et non potuit consummare. Er hat mit einem Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen! – Ein trauriger Kommentar; es liegt an dir zu verhindern, dass man so über dich redet. Denn du hast alle Mittel, um das Gebäude deiner Heiligung zu vollenden: die Gnade Gottes und deinen Willen.“1
JAKOBUS und Johannes verstanden den Vorschlag des Herrn nicht. Doch sie waren nicht die Einzigen, die irritiert waren. Denn die übrigen Apostel reagierten empört auf die Bitte der Zebedäussöhne – vermutlich, weil sie insgeheim das Gleiche begehrten. Der heilige Cyrill von Alexandrien kommentiert zu einer ähnlichen Szene im Lukasevangelium: „Die Jünger waren der menschlichen Schwäche verfallen und stritten darüber, wer der Anführer und den anderen überlegen sei … Dies geschah zu unserem Nutzen und wurde uns überliefert … Was den heiligen Aposteln widerfuhr, soll für uns ein Ansporn zur Demut sein.“2 Jesus nutzt die Gelegenheit, um seinen Jüngern zu zeigen, dass die Herrlichkeit anders ist als das, als sie sich vorgestellt haben: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele (Mk 10,42-45).
Die Botschaft Jesu erscheint auf den ersten Blick paradox: Um das Ziel zu erreichen, gibt er Mittel an, die zunächst nicht kohärent wirken. Papst Benedikt XVI. schildert die Situation folgendermaßen: „Herrschaft und Dienst, Egoismus und Altruismus, Besitz und Gabe, Interesse und Unentgeltlichkeit – diese zutiefst gegensätzlichen Logiken stehen sich zu allen Zeiten und an allen Orten gegenüber. Über den von Jesus gewählten Weg besteht kein Zweifel. Und er beschränkt sich nicht darauf, ihn den Jüngern damals und heute nur zu lehren, sondern beschreitet ihn mit seinem eigenen Leben.“3
Die Apostel sehnen sich nach Ruhm, doch der Weg dorthin scheint die Erniedrigung zu sein; sie suchen nach Bestätigung, und der Vorschlag läuft auf die Bestätigung der anderen hinaus; sie glauben, einem Herrscher zu dienen, und ihr Herr offenbart ihnen, dass er lebt, um allen zu dienen. Wie Papst Johannes Paul II. sagte, „war das Leben Jesu ein Leben für die anderen, ein Leben, das in einem ,Tod für die anderen‘ gipfelt und in den ‚anderen‘ die ganze menschliche Familie mit all der Last der Schuld umfasst, die sie seit den Anfängen an mit sich trägt.“4 Dieses Leben, das Christus für andere lebte, bringt uns Rettung. Es ist das Leben, das auch wir leben können, indem wir für Gott und unsere Brüder und Schwestern leben. Dadurch wird auch unser Leben fruchtbar und heilbringend für viele.
IN DER ZWEITEN Lesung ist der Autor des Hebräerbriefs am Wort: Da wir nun einen erhabenen Hohepriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat. Lasst uns also voll Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit! (Hebr 4,14-16). Wenn wir mit dem Psalmisten sprechen: Unsre Seele hofft auf den Herrn; er ist unsere Hilfe und unser Schild (Ps 33,20), geht uns wunderbar auf, dass diese Hilfe und dieser Schutz aus dem Erbarmen des Sohnes Gottes kommen – eine Erkenntnis, die in uns den Wunsch wecken kann, das Erbarmen Jesu auch den Menschen um uns herum zu schenken.
Indem wir unseren Mitmenschen dienen, leben wir das Erbarmen Jesu für andere. Dieser Dienst ist nicht nur eine materielle Hilfeleistung, sondern drückt auch das Mitgefühl und die Liebe Christi aus, die im Himmel wohlgefällig sind. Der Apostel Paulus ermahnt uns: Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen. Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht (Phil 2,4-5). Wenn wir wie Jesus aufmerksam für die Bedürfnisse anderer leben, sei es durch große oder kleine Akte des Dienens, vermitteln wir das Erbarmen Gottes.
Manchmal erkennen wir die Auswirkungen unserer Hilfe sofort; oft aber wirkt das Mitgefühl Jesu, das durch unsere Taten gegenwärtig wird, im Verborgenen. Dies erinnert an das Bild von Eltern, die gerührt und dankbar sind, wenn ein Kind ein Geschwisterkind liebevoll umsorgt. Sie werden dann nicht nur den Drang verspüren, dem bedürftigen Kind zu helfen, sondern auch das fürsorgliche Kind mit zärtlicher Liebe betrachten.
Papst Franziskus sagte bei einem Angelus-Gebet: „Unsere Treue zum Herrn hängt von unserer Bereitschaft zum Dienen ab. Und das, so wissen wir, kostet, denn es ,schmeckt nach Kreuz‘. Doch je mehr wir an Fürsorge und Hilfsbereitschaft den anderen gegenüber zunehmen, desto mehr gewinnen wir an innerer Freiheit und werden wir Jesus immer ähnlicher. Je mehr wir dienen, desto mehr spüren wir die Gegenwart Gottes, vor allem, wenn wir jenen dienen, die uns nichts zurückgeben können: den Armen, denen wir mit zärtlichem Mitgefühl begegnen. So entdecken wir, dass auch wir von Gott geliebt und angenommen werden.“5 Maria, unsere gute Mutter, möge uns helfen, uns für unsere Brüder und Schwestern zu verschenken. Sie zeigt uns den Weg, der uns zur Herrlichkeit führen wird.
1 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 234.
2 Hl. Cyrill von Alexandrien, Kommentar zum Lukas-Evangelium, 12,5,15: PG 72,912.
3 Benedikt XVI., Predigt, 18.2.2012.
4 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 14.10.1983.
5 Franziskus, Angelus-Gebet, 19.9.2021.