Betrachtungstext: 24. Woche im Jahreskreis – Donnerstag

Die Kühnheit einer Frau – Zwei Sichtweisen auf eine Geste – Christus bemerkt die Zuneigung, die wir für ihn empfinden.

JESUS befindet sich im Haus eines Pharisäers. Aus dem Bericht des Lukas wird deutlich, dass der Gastgeber großes Interesse daran hatte, mit diesem Mann, der so viele Wunder vollbracht hatte, gemeinsam zu essen. Endlich konnte er Jesus unter seinem Dach empfangen. Doch kaum hatten sie sich niedergelassen, trat eine Frau ins Geschehen – und sie war keine Unbekannte: Sie war eine Sünderin. Der Pharisäer war wahrscheinlich entsetzt. Für ihn war es undenkbar, dass jemand wie sie sein Haus betrat, noch dazu in einem so heiklen Moment mit einem so hohen Gast. Doch ihr bloßes Erscheinen war nicht das Überraschendste. Kühn kniete sie sich weinend zu den Füßen Jesu, benetzte sie mit ihren Tränen, trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl (Lk 7,38), das sie in einem Alabastergefäß mitgebracht hatte.

Diese Frau wollte sich nicht länger von ihrer Vergangenheit und ihren Sünden bestimmen lassen. Sie war sich ihrer vielen Fehler bewusst und wollte ihre Reue in einer demütigen und gleichzeitig mutigen Geste der Liebe ausdrücken. Ihre Verfehlungen hatten sie von Gott und den Menschen entfernt, doch das Bewusstsein ihrer Schuld führte sie nun zu Jesus, auch wenn sie nicht eingeladen war. Christus, der ihren tiefen Wunsch nach Veränderung erkannte, schenkte ihr, wonach sie suchte: Seelenfrieden und die Vergebung ihrer Sünden (vgl. Lk 7,50). Der heilige Josefmaria empfahl ein ähnliches Vorgehen: „Bitte Jesus, dir eine Liebe zu schenken, die wie ein reinigendes Feuer ist, in dem dein armes Fleisch – dein armes Herz – von allem irdischen Elend gereinigt wird … Wenn du dann von deinem Ich entleert bist, wird er allein dein Herz erfüllen. Bitte ihn um die Kraft, dich radikal vom Irdischen zu lösen, damit dich allein die Liebe trägt!“1


DER BERICHT des Evangeliums offenbart zwei verschiedene Sichtweisen auf die Geste der Frau. Einerseits ist da die Perspektive des Pharisäers. Er ist in erster Linie auf sich selbst fokussiert und denkt: Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist (Lk 7,39). Er zweifelt an Jesu prophetischen Fähigkeiten, verachtet die Frau und begeht noch einen weiteren entscheidenden Fehler: Er erkennt seine eigene Sünde nicht. Während er die Frau als Sünderin abstempelt, hält er sich selbst für gerecht und glaubt, keine Vergebung zu benötigen.

Auf der anderen Seite steht die Sichtweise Jesu, die von Barmherzigkeit geprägt ist. Der Herr sieht den Mut der Frau, die keine Angst hat, das Haus eines anderen zu betreten. Er erkennt ihre Demut, die sie dazu bringt, sich ihm zu Füßen zu werfen, und ist tief bewegt, als sie vor ihm weint. Für Jesus ist sie nicht in erster Linie eine Sünderin, sondern eine Frau, die mit ihrer Liebe Gottes Herz erreichen will. Der heilige Josefmaria betonte: „Schau, wie Gottes Gerechtigkeit von Erbarmen überfließt! – Denn bei menschlichen Gerichten wird der geständige Täter bestraft, beim göttlichen Gericht wird ihm verziehen.“2

Die Szene verdeutlicht, wie Papst Benedikt einmal sagte, dass „wer auf sich selber und seine eigenen Verdienste vertraut, durch sein Ich wie geblendet ist, und sein Herz sich in der Sünde verhärtet. Wer dagegen erkennt, dass er schwach und sündig ist, vertraut sich Gott an und erhält von ihm Gnade und Vergebung.“3 Wir wollen den Herrn daher bitten, dass wir, wie diese Frau, in Demut zu ihm finden, wenn wir die Last der Sünde in unserem Leben bemerken. Der heilige Josefmaria ermutigt uns: „Ja, du hast recht, du steckst tief im Elend. Auf dich selbst gestellt – wo wärest du jetzt, wie weit hättest du es gebracht? … Du erkennst: ,Nur eine Liebe voller Barmherzigkeit kann mich noch lieben.‘ Sei getrost: Wenn du ihn suchst, wird er dir weder seine Liebe noch seine Barmherzigkeit versagen.“4


DER PHARISÄER beginnt sich unwohl zu fühlen. Jesus hat in seinem Herzen gelesen, dass er die Geste der Frau verachtet hat. Der Herr weist ihn darauf hin, dass die Frau in Wirklichkeit die viel bessere Gastgeberin war als er selbst. Ihr Herz ist wie ein offenes Haus, bereit, Jesus aufzunehmen. Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser für die Füße gegeben; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und sie mit ihren Haaren abgetrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; sie aber hat, seit ich hier bin, unaufhörlich meine Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haupt mit Öl gesalbt; sie aber hat mit Balsam meine Füße gesalbt (Lk 7,44-46).

Christus bemerkt jede Äußerung unserer Zuneigung zu ihm: die Andacht, mit der wir an der Messe teilnehmen, die verborgenen Opfer, die wir täglich für ihn bringen, der kurze Moment der Sammlung, bevor wir mit unserer Arbeit beginnen ... Mit jeder dieser Gesten zeigen wir, ähnlich wie die Frau im Evangelium, die Liebe, die wir für den Herrn empfinden. Der heilige Josefmaria sagte dazu: „Dem, der liebt, entgeht keine auch noch so winzige Kleinigkeit. Ich habe das bei vielen Menschen gesehen: Diese kleinen Dinge sind etwas sehr Großes – sie sind Liebe!“5

Es ist unwahrscheinlich, dass Jesus uns Vorwürfe macht, wenn wir solche Zeichen der Liebe gelegentlich vernachlässigen, genauso wie er den Pharisäer nicht direkt tadelte. Wenn wir jedoch hart und herablassend gegenüber anderen sind, wird der Herr auch unsere Gespaltenheit aufdecken, denn: Wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden (Mt 7,2). Bitten wir daher die Jungfrau Maria um einen mütterlichen Blick auf unsere Brüder und Schwestern, der uns hilft, ihre Fehler zu relativieren und ihre guten Eigenschaften zu schätzen.


1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 814.

2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 309.

3 Benedikt XVI., Ansprache, 7.3.2008.

4 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 897.

5 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 443.