Betrachtungstext: 2. Osterwoche – Dienstag

Nikodemus nach der Kreuzigung – Die Einheit, Geschenk und Aufgabe von Anfang an – Man wird die Christen an ihrer Liebe zueinander erkennen

DAS GESPRÄCH zwischen Jesus und Nikodemus dürfte lang gedauert haben, auch wenn uns das Evangelium nur einige Sätze überliefert. Jener Gesetzeslehrer hatte erwartet, einen Propheten anzutreffen, einen von Gott Erwählten, doch wurden seine Erwartungen weit übertroffen: Was er vorfand, war nicht nur mehr, als er gehofft hatte, sondern etwas radikal anderes, ein Mann, aus dessen Mund er ungeahnte Offenbarungen vernahm. Wir wissen nicht, wie weit er sie verstanden hat oder wie viele Einzelheiten Jesus ihm in diesem Moment offenbaren wollte. Doch wir wissen, dass Nikodemus in der schweren Stunde der Passion, als fast alle Jünger geflohen waren, für ein würdiges Begräbnis des Leichnams Christi sorgte. Dabei wird er sich an Jesu Worte erinnert haben, mit welchen der Herr bei jenem nächtlichen Gespräch seinen Kreuzestod und die Früchte dieses Opfers prophezeit hatte: Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat (Joh 3,14-15).

Nikodemus war diese Episode aus der Geschichte seines Volkes bekannt: Mose hatte die bronzene Schlange an einen Pfahl geheftet, damit diejenigen, die von den Giftschlangen in der Wüste gebissen worden waren, geheilt wurden, wenn sie sie anblickten (vgl. Num 21,8-9). Mit dem Hinweis auf diese Episode erinnert uns Jesus daran – so hielt es das II. Vatikanische Konzil fest –, dass „niemand durch sich selbst und aus eigener Kraft von der Sünde erlöst und über sich hinausgehoben wird, niemand vollends von seiner Schwachheit, Einsamkeit oder Knechtschaft frei gemacht wird, vielmehr brauchen alle Christus als Beispiel, Lehrer, Befreier, Heilbringer, Lebensspender“1. Um zu glauben, um gerettet zu werden, um lieben zu lernen, müssen wir auf Christus am Kreuz blicken. An seinen Gesten und Worten werden wir erkennen, wie die Liebe ist, die er unseren Herzen eingießen möchte. Durch seine persönliche Begegnung mit dem Kreuz verwandelte sich Nikodemus noch weiter. Von da an überwand er seine Ängste und menschlichen Rücksichten, um sich offen als Freund Jesu zu erkennen zu geben. Die Betrachtung des Kreuzes verändert uns immer.


AUCH DIE APOSTEL verwandelten sich weiter, als sie nach der Auferstehung des Herrn die wahre Tragweite und Bedeutung seines Kreuzestodes verstehen lernten. In ihren Herzen blieb eingebrannt, dass es, wie der heilige Josefmaria sagte, „die Liebe ist, die den Herrn nach Golgotha geführt hat und dass auch jetzt, da er schon am Kreuz hängt, jede Gebärde, jedes Wort Ausdruck der Liebe ist, einer langmütigen, starken Liebe“2. Erst als sie die Größe der göttlichen Liebe am Kreuz in ihrer Tiefe sahen, konnten sie zwei Dinge richtig verstehen: erstens das neue Gebot, das Jesus ihnen beim letzten Abendmahl gegeben hat (vgl. Joh 13,34), und zweitens die Bitte um die Einheit unter seinen Jüngern, die Christus in jener Nacht an den Vater gerichtet hatte (vgl. Joh 17,21).

Die Worte Jesu über die brüderliche Liebe und Einheit wurden von den Aposteln treu an die ersten Christen weitergegeben. Und in der Tat lautet die Beschreibung der jungen Gemeinde in Jerusalem, dass die Menge derer, die gläubig geworden waren, ein Herz und eine Seele war (Apg 4,32). Dabei war die Einheit und Harmonie, die sie erlangt hatten, sicherlich nicht allein eine menschliche Leistung, eine Frucht der Praxis der Tugenden des Zusammenlebens oder kluger Vereinbarungen. Sie war in erster Linie eine Gabe Gottes, ein Werk des Heiligen Geistes in jenen, die durch die Taufe zum Leben der Gnade geboren worden waren. Sie war aber auch eine Aufgabe. Die traurige Geschichte von Hananias und Saphira, die unmittelbar danach erzählt wird (vgl. Apg 5,1-10), zeigt deutlich, dass diese Einheit – die so fest war, dass sie als ein Herz und eine Seele bezeichnet werden konnten – ein kostbares, aber zerbrechliches Geschenk ist, das auch davon abhängig ist, mit welcher persönlichen Freiheit sich ein jeder öffnet, um es zu empfangen.

Dieses „Wunder der Einheit“ wird vom Heiligen Geist vollbracht, doch es hängt auch davon ab, ob wir bereit sind, es zu empfangen: Stolz, Egoismus, üble Nachrede, Misstrauen können uns daran hindern. Der heilige Johannes Paul II. schrieb: „Die Apostelgeschichte legt dar, wie in der heiligen Stadt Jerusalem, die noch von den Ereignissen des letzten Passahfestes gezeichnet ist, die Kirche geboren wird. Diese junge Kirche hat von Anfang an an der Einheit festgehalten, das heißt, sie hat eine Gemeinschaft gebildet, die durch die Gnade des Heiligen Geistes gestärkt wurde. Und so ist es bis heute. In seinem österlichen Geheimnis bildet Jesus Christus das Zentrum dieser Gemeinde. Er sorgt dafür, dass die Kirche lebt, wächst und sich aufbaut als ein Leib, der zusammengefügt und durch jedes Gelenk gefestigt wird (Eph 4,16).“3 Die Einheit ist ein Geschenk an die Kirche und eine Aufgabe für jeden Einzelnen.


DIE APOSTEL legten Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn, und reiche Gnade ruhte auf ihnen allen (Apg 4,33). In den ersten Jahrhunderten verbreitete sich das Christentum rasch. Dies geschah dank des Mutes der Christen, aber vor allem dank des Zeugnisses der Liebe, die sie zueinander lebten und unter allen zu verbreiten suchten. „Seht, wie sie einander lieben“, sagten die Leute nach dem Zeugnis eines antiken Schriftstellers, „seht, wie bereitwillig jeder für den anderen zu sterben bereit ist!“4

Um glaubwürdig zu sein, müssen die Christen vereint sein, muss die Liebe, mit der sie miteinander umgehen, sichtbar sein. Das Apostolat ist nichts anderes als das Überfließen dieser Liebe auf alle, weil jeder eine natürliche Sorge für die anderen empfindet. Der heilige Josefmaria hielt dies im Opus Dei für wesentlich: „Ich möchte, dass das Werk immer so bleibt: eine kleine, sehr vereinte Familie, auch wenn wir über die ganze Welt verstreut sind.5 Er sagte auch, dass wir uns für dieses Klima des Vertrauens und der Einfachheit, der Freude und der Zuneigung einsetzen sollten, auch wenn sich das Apostolat des Werkes immer mehr ausdehnen würde.

„Welche große Verantwortung trägt uns der Herr heute auf! Er sagt uns“, so Papst Franziskus, „dass die Menschen die Jünger Jesu daran erkennen werden, wie sie einander lieben. Die Liebe ist – mit anderen Worten – die Identitätskarte des Christen, der einzige ,Ausweis‘, der gültig ist, um als Jünger Jesu erkannt zu werden. Der einzige gültige Ausweis. Wenn dieser Ausweis abläuft und nicht ständig erneuert wird, sind wir keine Zeugen des Meisters mehr. Also frage ich euch: Wollt ihr die Einladung Jesu annehmen, seine Jünger zu sein? Wollt ihr seine treuen Freunde sein? Der wahre Freund Jesu unterscheidet sich vor allem durch die konkrete Liebe (...), lieben heißt schenken – nicht irgendetwas Materielles, sondern etwas von sich selbst: die eigene Zeit, die eigene Freundschaft, die eigene Fähigkeit.6

Bitten wir die allerseligste Jungfrau Maria, dass wir mit der Wärme einer konkret gelebten Liebe und mit einer Einheit, die alle anzieht, das Licht und die Wärme des Glaubens weiterzugeben wissen.


1 Zweites Vatikanisches Konzil, Ad Gentes, Nr. 8.

2 Hl. Josefmaria, Kreuzweg, XI. Station.

3 Hl. Johannes Paul II., Predigt, 13.6.1999.

4 Tertullian, Apologeticum, 39.

5 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 17.5.1970.

6 Franziskus, Predigt, 24.4.2016.