Betrachtungstext: 2. Adventwoche – Dienstag

Der Herr kommt, uns zu suchen – Beginnen und immer wieder beginnen – Mehr auf Gott und weniger auf uns vertrauen.

„SEHT, der Herr wird kommen und alle Heiligen mit ihm. Ein großes Licht wird aufstrahlen an jenem Tag.“1 Mit diesen erwartungsvollen Worten beginnt die heutige heilige Messe. Das Herannahen des Herrn erfüllt uns mit Vorfreude, denn er ist derjenige, der uns rettet, jeden Einzelnen von uns. Jesus Christus weist im Evangelium darauf hin, wenn er seine Jünger fragt: Was meint ihr? Wenn jemand hundert Schafe hat und eines von ihnen sich verirrt, lässt er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen zurück, geht hin und sucht das verirrte? (Mt 18,12). Der Gute Hirt kommt, um das verirrte Schaf zu suchen, das aus irgendeinem Grund vom Weg abgekommen ist. Er kommt, um uns mit seinem Leben zu erfüllen und uns in unserer Berufung zur Heiligkeit zu bestärken.

Wir wollen neuerlich die Stimme dessen vernehmen, den die erste Lesung als einen Hirten beschreibt, der seine Herde fürsorglich zur Weide führt. Liebevoll trägt er die Lämmer auf dem Arm, die Mutterschafe führt er behutsam (Jes 40,11). Der Herr setzt alles daran, dass wir die Freude der Heiligkeit erfahren, und sucht uns unablässig. Auf die Größe einer solchen Barmherzigkeit Gottes hinweisend, predigte der heilige Bernhard: „Um das hundertste Schaf, das sich verirrt hatte, zu suchen, ist er von den Bergen herabgeeilt (…). Wunderbare Herablassung Gottes, der den Menschen sucht; hohe Würde des Menschen, von Gott gesucht zu werden!2

Wir laufen ihm ebenfalls eilends entgegen, bereit, unsere Liebe zu erneuern. Der heilige Josefmaria spricht uns aus der Seele, wenn er freudigen Herzens schreibt: „Gekommen ist für uns ein Tag des Heils, von Ewigkeit her bestimmt. Und einmal mehr ist der zärtliche Anruf des göttlichen Hirten zu vernehmen: Vocavi te nomine tuo – ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Wie unsere Mutter spricht er uns namentlich an, ja sogar mit dem vertrauten Vornamen. Dort, im Innersten der Seele ruft er, und wir sollen antworten: Ecce ego, quia vocasti me – hier bin ich, denn du hast mich gerufen. Und wir sind fest entschlossen: Diesmal darf die Zeit nicht spurlos vorüber rinnen wie Wasser über den angespülten Felsblock.3 Wir möchten, dass dieser Advent in unserer Seele eine Spur hinterlässt, denn sobald wir unseren Namen aus dem Mund des Guten Hirten hören, erwacht unser Verlangen nach Erneuerung durch seine Gnade.


IN DER Wüste bahnt den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben (Jes 40,3-4). Die Worte des Propheten Jesaja, die wir in der ersten Lesung hören, laden uns ein, uns so gut wie möglich vorzubereiten, um die Gnade zu empfangen, die uns der Herr bei seinem Kommen schenken will.

Es wird uns bewusst, dass wir uns in vielen Aspekten bessern sollten: im Wunsch, ein beschauliches Leben zu erlangen, im Opfergeist, in unserer Arbeitsweise, in der Sorge um die Seelen, im Apostolat … Und nicht auf allgemeine Art und Weise, sondern in konkreten Punkten: zum Beispiel in jenen Dingen, die uns in der geistlichen Leitung oder in der Beichte angeraten werden; oder in jener konkreten Tugend, von der wir wissen, dass sie uns so gut tut. Mit der Gnade Gottes können wir danach streben, immer ein wenig mehr verwandelt zu werden, auch wenn es manchmal langsamer vorangeht, als wir uns wünschten: „Mir haben jene Heiligenbiographien nie gefallen“, schrieb der heilige Josefmaria zur Ermutigung, „die, aus Naivität, aber auch mangels christlicher Bildung die Heiligen so darstellen, als wären sie vom Mutterschoß an in der Gnade festgestanden. Nein, die wahren Biographien der christlichen Helden gleichen den unsrigen aufs Haar: Sie kämpften und siegten, sie kämpften und unterlagen. Um dann, zerknirscht, den Kampf wieder aufzunehmen.4

Um Jesus entgegenzugehen, ist es notwendig, stets jenen inneren Impuls wach zu halten, der uns bewegt, ihn zu suchen, und uns beständig zum Siegespreis hintreibt, der uns erwartet. Wenn es nach dem heiligen Augustinus geht, ist Zielorientierung angesagt. Er predigte: „Danach jage ich, daraufhin mache ich Fortschritte, dorthin wandere ich, dorthin bin ich unterwegs, danach strecke ich mich aus, bin aber noch nicht ans Ziel gelangt. Wenn also auch du wanderst, wenn du dich ausstreckst, wenn du das, was kommen wird, im Sinn hast: Vergiss das Vergangene, schau nicht darauf zurück, damit du nicht dort bleibst, wohin du zurückblickst. (...) Wenn du aber sagen wolltest: Es reicht; dann ist das dein Verderben.“5


NACH BEENDIGUNG des Gleichnisses vom Hirten, der das verlorene Schaf sucht, verkündet Jesus mit Nachdruck: So will auch euer himmlischer Vater nicht, dass einer von diesen Kleinen verloren geht (Mt 18,14). Der Herr verlässt uns nie. Das ist unsere Hoffnung. Immer wird es Fehltritte geben, doch selbst die Schwäche, wenn sie als solche anerkannt wird, zieht die Stärke Gottes an. „Im Himmel entsteht mehr Freude über einen bekehrten Sünder als über einen standhaften Gerechten“, predigte Gregor der Große, „denn auch ein Feldherr schätzt auf dem Schlachtfeld jenen Soldaten mehr, der aus der Flucht wieder unter die Fahne getreten ist und mit aller Macht auf den Feind eindringt, als den, der sich niemals flüchtig gemacht, sich aber auch niemals tapfer betragen hat.6 Nicht derjenige heiligt sich, der niemals fällt – eine solche Seele gibt es nicht –, sondern derjenige, der rasch wieder aufsteht.

Das christliche Leben ist ein Leben des geistlichen Kampfes. Es handelt sich um einen Kampf voll Frieden, Sportlichkeit und Freude, weil sein wesentliches Fundament das Vertrauen in Gott ist. „Jesus versteht unsere Schwachheit und zieht uns wie über eine sanft ansteigende Ebene zu sich hin“, erklärt der heilige Josefmaria. „Er hofft nur, dass wir in der Bemühung ausharren, täglich ein wenig höher zu kommen. Er sucht uns auf, wie er die beiden Jünger von Emmaus aufsuchte und sich ihnen in den Weg stellte; und wie er den Thomas aufsuchte, ihm die offenen Wunden seiner Hände und seiner Seite zeigte und ihn aufforderte, diese mit seinen Fingern zu berühren. Gerade weil Jesus unsere Schwachheit kennt, wartet er ständig darauf, dass wir zu ihm zurückkehren.“7

Es ist also notwendig, vor Gott demütig zu sein, wie ein Kind, das versucht, sich gut zu betragen; und auch wenn ihm dies häufig nicht gelingt, so erfährt es doch immer die bedingungslose Liebe seiner Eltern. Der Herr freut sich, wenn wir uns an ihn wenden, ihn um Hilfe bitten und, wenn notwendig, um Verzeihung. Darin besteht zum Gutteil das Geheimnis der Heiligkeit. Rechnen wir auch mit der Unterstützung unserer heiligsten Mutter. Sie hilft uns immer, neu anzufangen, uns vom Guten Hirten von Neuem finden zu lassen. Der heilige Josefmaria gab folgenden Rat: „Durch Maria, deine Mutter, die Barmherzige Liebe Jesu anrufen. – Ein ,Miserere‘, Kopf hoch und neu beginnen.“8


1 Schott Messbuch, Dienstag der 2. Adventswoche, Eröffnungsvers.

2 Hl. Bernhard, Predigt auf den Advent des Herrn, 1, 7.

3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 7.

4 Hl. Josefmaria., Christus begegnen, Nr. 76.

5 Hl. Augustinus, Predigt 169, 18.

6 Hl. Gregor der Große, Homilien über die Evangelien, 26.

7 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 75.

8 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 711.