MATTHÄUS überliefert in seinem Evangelium fünf große Reden Jesu. Eine davon nimmt ihren Anfang bei einer Frage, die die Jünger stellen: Wer ist denn im Himmelreich der Größte? (Mt 18,1). Der Herr antwortet auf anschauliche Art und Weise: Er rief ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen (Mt 18,2-3). Vor einer Zuhörerschaft, die möglicherweise mit der Erlangung von Privilegien liebäugelte, macht Christus klar: Es sind nicht unsere Leistungen, die uns einen Ehrenplatz im Reich Gottes sichern, sondern das Ringen darum, wie Kinder zu werden und unsere Grenzen demütig anzunehmen. Kinder überlassen sich, im Vertrauen darauf, dass die Erwachsenen die Probleme schon lösen werden, und sind auch unbesorgt, was ihren Ruf anlangt. Ihr Reichtum liegt in dem, womit Gott, die Eltern, Großeltern und Geschwister sie beschenken.
Wenn wir beobachten, wie Kinder sich verhalten, können wir feststellen, dass sie gerne die Aufmerksamkeit der Erwachsenen suchen. Papst Franziskus sagte: „Die Kinder wollen unsere Aufmerksamkeit. Warum wollen sie im Mittelpunkt stehen? Weil sie stolz sind? Nein! Weil sie sich beschützt fühlen wollen.“1 Kinder wissen, dass sie allein nichts zustande bringen. Im Laufe der Jahre werden sie immer unabhängiger, und in der Pubertät gehen viele von ihnen ins andere Extrem: Sie meinen, autark zu sein und von anderen nichts zu brauchen. Der nächste Schritt der Reife besteht darin, zu erkennen, dass die Menschen um uns herum viel zu unserer Entwicklung beigetragen haben: Ohne sie wären wir nicht dieselbe Person.
Ähnliches kann im inneren Leben geschehen. Wir lernen von unseren Eltern, einem Katecheten oder einem Priester, mit Gott eine Beziehung zu haben. Vielleicht denken wir, dass wir die Hilfe der anderen eines Tages nicht mehr benötigen. Davor warnte jedoch der heilige Josefmaria. Er sagte, dass die großen Vergehen, die die Menschen begehen, „ihren Ursprung immer im Stolz haben, sich für erwachsen und selbstständig zu halten. In diesen Fällen waltet in der Seele eine Art Unvermögen, den, der helfen kann, um Hilfe zu bitten: nicht nur Gott, sondern auch den Freund oder den Priester. Und so verliert die arme, in ihrem Unglück sich selbst überlassene Seele jegliche Orientierung.“2 Daher empfahl der Gründer des Opus Dei, wie die Kinder sein zu wollen, damit das eigene Leben groß wird: „Möget ihr echte Kinder sein! Je mehr, desto besser. Dies sage ich euch mit der Erfahrung eines Priesters, der sich im Laufe von sechsunddreißig Jahren – wie lang und wie kurz kommen sie mir vor! –, in denen er einen ganz präzisen Auftrag des göttlichen Willens zu erfüllen suchte, sehr oft wieder aufrappeln musste. Etwas hat mir stets dabei geholfen: dass ich Kind bleibe und Zuflucht suche beim Schoß meiner Mutter und beim Herzen Christi, meines Herrn.“3
WENN wir uns noch einmal ansehen, wie Kinder sind, können wir einen weiteren Aspekt ihrer Lebenseinstellung entdecken: Sie spielen gerne. Und sie geben sich oft nicht damit zufrieden, mit Gleichaltrigen Spaß zu haben, sondern wollen, dass auch die Eltern mitspielen. Für einen Erwachsenen bedeutet dies, auf seine eigene Logik zu verzichten und wieder klein zu werden. Papst Franziskus sagte: „Wenn wir wollen, dass das Kind sich vergnügt, dann müssen wir verstehen, was ihm gefällt – und dürfen nicht egoistisch sein.“4 In gewisser Weise heißt das, dass wir persönliche Sorgen – die wahrscheinlich dringlicher sind als das Spiel – zurückstellen und überlegen, was das Kind in diesem Moment von seinen Eltern erwartet. Diese Haltung können wir auch gegenüber unseren Mitmenschen entwickeln. Wenn wir jemandem anderen eine Geste des Dienstes oder der Zuneigung schenken, folgen wir der Logik des Spiels: Wir erkennen, was der andere vielleicht braucht, und versuchen, es zu erfüllen.
Manchmal ist es in der Tat nicht leicht, Zeit zum Spielen zu finden, d. h. anderen Aufmerksamkeiten zukommen zu lassen. Für den heiligen Josefmaria waren diese Zeichen der Wertschätzung jedoch von entscheidender Bedeutung für das eigene Glück und das der anderen. Deshalb ermutigte er seine Söhne und Töchter: „Es macht mir nichts aus, es einmal und immer wieder zu sagen. Zuneigung brauchen alle Menschen, und wir brauchen sie auch im Werk. Bemüht euch, dass die Zuwendung zu euren Brüdern und Schwestern, ohne Gefühlsduselei, immer tiefer wird. Alles, was einen Sohn oder eine Tochter von mir betrifft, soll euch ganz persönlich betreffen. An dem Tag, an dem wir fremd oder gleichgültig nebeneinander her leben, haben wir das Opus Dei zerstört.“5 Das Bemühen, an unsere Mitmenschen zu denken, erfüllt uns nicht nur mit Freude, sondern macht es uns auch leichter, zu erkennen, dass der Herr der erste ist, der mit uns spielt. Papst Benedikt schrieb: „Nur wenn ich bereit bin, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu zeigen, werde ich auch zartfühlend Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen für das, was Gott für mich tut und wie sehr er mich liebt.“6
ZU EINEM HOHEN MASS können wir Gott in jenen erkennen, die uns rein materiell betrachtet wenig geben können: Kinder, Kranke, alte Menschen ... In diesem Sinne sagte der heilige Josefmaria: „Die Armen sind mein bestes geistliches Buch und das Hauptthema meines Gebetes. Sie schmerzen mich, und Christus schmerzt mich in ihnen … Und dieser Schmerz lässt mich erkennen, dass ich ihn liebe und dass ich sie liebe.“7 Der Gründer des Opus Dei war sich von Anfang seines pastoralen Wirkens an über die von Jesus verkündete Hierarchie im Klaren. „Kind. – Kranker. – Seid ihr nicht versucht, diese Worte ganz in Großbuchstaben zu schreiben? Für einen in Gott verliebten Menschen sind die Kinder und Kranken er.“8 Diese Worte spiegeln die Erfahrung des jungen Priesters aus der seelsorgerischen Betreuung von Notleidenden im Patronat von Santa Isabel in Madrid in den 1930er Jahren wider.
Die Fürsorge für die Schwächsten der Gesellschaft bringt uns dem Herrn näher. Erstens, weil alles, was wir für sie tun, so ist, als ob wir es für Gott selber tun: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40). Zweitens werden wir Jesus in gewisser Weise gleich, denn wir übernehmen seinen Lebensstil – er ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen (Mt 20,28) – und werden seine Botschafter, da wir unseren Mitmenschen den Trost Gottes bringen. Außerdem beginnt unser Herz dem des Herrn zu ähneln, der liebt, ohne etwas dafür zu erwarten. Dabei ist wahr, dass diese Menschen uns materiell wenig geben können, in Wirklichkeit geben sie uns aber das Beste: Sie zeigen uns Gott selbst.
„Wenn du jemandem deine ganze Liebe schenkst, kannst du dir nie sicher sein, ob er dich auch liebt“, sagte die heilige Teresa von Kalkutta. „Erwarte nicht, dass du zurückgeliebt wirst; erwarte nur, dass die Liebe im Herzen des anderen wächst. Wenn sie nicht wächst, sei froh, dass sie in deinem Herzen gewachsen ist. Es gibt Dinge, die du gerne hören würdest, die du aber nie von jener Person hörst, von der du sie gerne hören würdest. Sei nicht so taub, sie nicht von demjenigen zu hören, der sie dir von Herzen sagt.“9 Oft drücken das Kind, der Kranke oder der alte Mensch, den wir betreuen, ihre Dankbarkeit uns gegenüber nicht ausdrücklich aus. Damit bieten sie uns eine weitere Möglichkeit, Gott ähnlich zu werden, denn er schenkt uns seine beständige Zuneigung, oft ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Die Gottesmutter möge uns helfen, das Herz einer Mutter zu haben, die sich nicht scheut, sich für jene zu verschenken, die sie liebt.
1 Franziskus, Audienz, 30.12.2015.
2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 147.
3 Ebd.
4 Franziskus, Audienz, 30.12.2015.
5 Hl. Josefmaria, Brief, 14.2.1974, Nr. 23.
6 Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 18.
7 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 827.
8 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 419.
9 Hl. Mutter Teresa von Kalkutta, Pobre entre los más pobres, Ediciones Paulinas, 2003, p. 31.