Betrachtungstext: 1. Woche der Fastenzeit – Samstag

Jesus gibt uns auf, unsere Feinde zu lieben – Gott lässt es über Gute und Böse regnen – Das Schlachtfeld in unser eigenes Leben verlegen

LIEBT EURE Feinde und betet für die, die euch verfolgen (Mt 5,44); diese Hinweise Christi gehören zu den überraschendsten seiner Predigt, unsere Erstreaktionen fallen leider oft gegenteilig aus. Klarerweise werden wir diesen Forderungen nicht mit oberflächlichen Reaktionen entsprechen können, als ob es nur darum ginge, jemandem nachzugeben, der uns Unrecht getan hat; es geht um viel mehr: Wir sollen ihn lieben und für ihn beten.

Papst Franziskus erläutert dazu: Die Worte Jesu sind klar (...). Das ist nichts Fakultatives, das ist ein Gebot. (...) Er weiß sehr gut, dass die Feindesliebe unsere Möglichkeiten übersteigt, doch dafür ist er Mensch geworden: nicht um uns so zu lassen, wie wir sind, sondern um uns in Männer und Frauen zu verwandeln, die zu einer größeren Liebe fähig sind, der Liebe seines und unseres Vaters. (...) Dieses Gebot, auf Beleidigung und Unrecht mit Liebe zu reagieren, hat in der Welt eine neue Kultur hervorgebracht: die ,Kultur der Barmherzigkeit‘ (...). Dies ist die Revolution der Liebe, deren Protagonisten die Märtyrer aller Zeiten sind.1

Um dahin zu gelangen, werden wir unsere ganze Hoffnung auf die Gnade setzen. Deinen Gesetzen will ich folgen. Verlass mich nicht! Niemals! (Ps 119,8), beten wir mit dem Psalm. Gottes Hilfe soll dabei nicht nur in unserem Willen, sondern auch in unserem Verstand und in unserem Herzen wirken. „Ich glaube, keine Feinde zu haben“, schrieb der heilige Josefmaria in einer Zeit der Verfolgung. „Ich habe in meinem Leben wohl Menschen getroffen, die mir Schaden, positiven Schaden zugefügt haben. Ich glaube aber nicht, dass sie Feinde sind: Dafür bin ich zu klein. Doch von nun an sollen sie zur Kategorie meiner Wohltäter gehören, damit ich sie täglich dem Herrn anempfehle.2


WESHALB solltest du nicht lieben, fragt der heilige Johannes Chrysostomus: Was hast du dagegen vorzubringen? Dass der, den du geehrt hast, dich beschimpft? Dass der, dem du Wohltaten erwiesen hast, dir nach dem Leben trachtet? So etwas spornt dich doch nur zu noch größerer Liebe an, wenn du um Christi willen liebst. Denn was anderswo die Liebe auslöscht, ist nur ein Antrieb zu größerer Liebe. Wieso? Erstens, weil ein solcher Mensch dir Gelegenheit zur Erlangung von Verdiensten bietet; und dann, weil einer, der so gesinnt ist, noch mehr Unterstützung und intensive Zuwendung braucht.3 Wie grau wäre die Welt, wenn alle Menschen gleich wären und wir uns alle gleich gut verstehen würden. Das ist nicht die Realität, und Jesus fordert uns auf, alle Menschen zu lieben, für sie zu beten und ihnen zu dienen. Die gegenteilige Haltung finden wir in den Worten Kains, der vor Neid und Hass brannte: Bin ich der Hüter meines Bruders? (Gen 4,9).

Wenn wir unseren Blick auf Christus richten, findet seine Liebe zu allen Menschen in unserer Seele Widerhall. Papst Franziskus ermuntert uns: „Werdet Kinder eures Vaters im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Es wird uns gut tun, am heutigen Tag, an einen Feind zu denken – ich glaube, wir alle haben einen –, an einen, der uns etwas Böses angetan hat oder antun will oder versucht, es uns anzutun. Dann beten wir für ihn. Wir wollen den Herrn um die Gnade bitten, ihn zu lieben.4 Es wird nicht nötig sein, uns auf ferne Orte, große Schlachtfelder oder mächtige Feinde zu besinnen. Vielleicht sollten wir in unseren eigenen vier Wänden darum kämpfen, mehr Verständnis aufzubringen, gerne zu vergeben und keinen Groll gegen einen Bruder, eine Tochter oder unseren Ehepartner zu hegen. Wie oft haben wir erlebt, wie die Gnade das möglich macht, was wir uns vorher nicht vorstellen konnten.


AUF DEM HOLZWEG befinden sich jene, die, je weniger sie auf ihre eigenen Sünden achten, umso neugieriger auf die Sünden der anderen sind“, lehrte der heilige Augustinus. „Sie suchen nicht, was sie verbessern, sondern wohin sie beißen können. Und da sie sich nicht entschuldigen können, sind sie bereit, andere anzuklagen.5 Die Aufgabe, unsere Feinde zu lieben, bringt es mit sich, dass wir lernen, auf unsere eigenen Schwächen zu achten, auf unsere Fehler, auf alles in unserem Leben, das mit Christus noch eins werden soll. Diese Haltung ist voll von praktischem Realismus, denn was wir mit Gottes Hilfe tatsächlich ändern können, ist, was wir im Herzen tragen. Wir verlassen somit ein imaginäres Schlachtfeld – das Leben anderer –, um die Welt von einem Nahkampf aus mit Gutem zu erfüllen. Wir überlassen es Gott, den Lauf der Geschichte zu ändern, während wir die Richtung unserer Schritte korrigieren.

Wir müssen Verständnis für alle haben, mit allen zusammenleben, alle entschuldigen, allen verzeihen können“, sagte der heilige Josefmaria. „Wir werden uns nicht dazu hergeben, das Ungerechte gerecht und das Schlechte gut zu nennen oder die Beleidigungen Gottes zu beschönigen. Aber wir werden das Böse nicht mit Bösem erwidern, sondern mit der klaren Lehre und der guten Tat: indem wir es im Überfluss des Guten untergehen lassen (vgl. Röm 12,21).“6 Das soll nicht heißen, dass etwas nicht richtiggestellt werden soll, wenn die Umstände es erfordern. Es geht auch nicht darum, naiv zu sein, ganz im Gegenteil: Es geht darum, die Weisheit Gottes zu erlangen. Eine reife, großzügige und diskrete Liebe ist fähig, Kränkungen zu vergessen, über fehlende Anerkennung hinwegzusehen, Mut zu fassen und Christus am Fuß des Kreuzes zu folgen: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). Wir bitten die Jungfrau Maria, die Königin des Friedens, uns zu lehren, alle ihre Kinder zu lieben, für diejenigen zu beten, die uns vielleicht verletzt haben, und uns zu helfen, das Schlachtfeld in unsere eigene Seele zu verlegen.


1 Franziskus, Angelus-Gebet, 24.2.2019.

2 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen, 28.10.1931, Nr. 357, zitiert in: Camino. Edición crítico–histórica, S. 905.

3 Hl. Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus, 60, 3.

4 Franziskus, Tagesmeditation, 19.6.2018.

5 Hl. Augustinus, Sermo 19.

6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 182.