Betrachtungstext: 1. Woche der Fastenzeit – Freitag

Kritische Urteile und das fünfte Gebot – Das Bestmögliche von den anderen denken – Die Liebe Gottes befreit uns vom Neid

MEHR ALS Wächter auf den Morgen, Israel, warte auf den Herrn, denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle (Ps 130,7-8). Als Christen hoffen wir auf einen Gott, der Vergebung und Barmherzigkeit ist, und an seiner Seite betrachten wir die Welt. Auch so könnte man den Kampf um die Heiligkeit definieren: als die fortschreitende Einswerdung unseres Blicks mit dem seinen. Dieses Streben beginnt mit der Reinigung unseres Herzens, zu der uns die Fastenzeit wiederholt einlädt. Doch wissen wir, dass dies kein selbstgesteuerter Prozess ist. Manchmal neigen wir dazu, vorschnelle Urteile zu fällen und die Dinge ausschließlich aus unserer eigenen Perspektive zu betrachten, ohne uns bewusst zu sein, welchen Schaden wir anderen und uns selbst damit zufügen. Jesus bringt diese Reibereien und Feindseligkeiten mit dem fünften Gebot in Verbindung, das gebietet, nicht zu töten (vgl. Mt 5,21-24).

Der heilige Augustinus predigte: „Wer kann den Menschen beurteilen? Die ganze Welt ist voll von vorschnellen Urteilen. In der Tat wird derjenige, an dem wir verzweifelten, in einem unverhofften Moment plötzlich der Beste von allen. Derjenige hingegen, in den wir so viel Vertrauen gesetzt hatten, fällt plötzlich in einem unerwarteten Moment.1 Das Reich Gottes ist unter uns, und allein der Herr wird den Richterstuhl einnehmen. Papst Franziskus sagte: „Wir leicht ist es, die anderen zu kritisieren! (...) Der Heilige Geist schenkt uns die Sanftmut und lädt uns ein zur Solidarität: die Last der anderen zu tragen. Wie viele Lasten gibt es im Leben eines Menschen: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, Schmerz ...! Und wie viele Prüfungen, die die Nähe und die Liebe der Brüder und Schwestern erfordern!“2


ES IST NICHT EINFACH, den inneren Mechanismus auszuschalten, der uns zur negativen Kritik verleitet; jedoch kann der Heilige Geist uns Licht geben, damit wir entdecken, was in unserem Herzen vor sich geht, wenn sich diese negativen Regungen zeigen. Die Schuldzuweisungen, so sagte Papst Franziskus, „der ausgestreckte Zeigefinger und die Verurteilungen, die wir anderen gegenüber an den Tag legen, sind oft ein Zeichen unserer Unfähigkeit, unsere eigene Schwäche, unsere eigene Hinfälligkeit innerlich anzunehmen. Nur die Sanftmut wird uns vor dem Treiben des Anklägers bewahren (vgl. Offb 12,10). Aus diesem Grund ist es wichtig, der Barmherzigkeit Gottes, insbesondere im Sakrament der Versöhnung, zu begegnen und eine Erfahrung von Wahrheit und Sanftmut zu machen.3 Ein tiefes Bewusstsein der Vergebung, der Tatsache, dass wir so viel Güte Gottes nicht verdient haben, wird uns dazu führen, andere auf die gleiche Weise zu betrachten: mit einem wohlwollenden Blick. Manchmal kann das Urteilen über andere ein Symptom dafür sein, dass wir – aufgrund eines irrigen Gottesbildes, demnach Gott nicht liebt, sondern zahlt – glauben, wir hätten uns die Gnade wahrhaft verdient.

Eine Möglichkeit, negative Kritik bereits im Inneren auszuschalten, besteht darin, immer das Bestmögliche von den anderen zu denken. Der heilige Thomas von Aquin wies darauf hin, dass es wohl sein kann, dass derjenige, der ein Verhalten im Zweifel zur bessern Seite hin auslegt, öfter getäuscht wird; aber es ist besser, sagt der Kirchenlehrer, „dass jemand öfter sich täusche in seiner guten Meinung über andere, als dass er ohne zwingenden Grund eine schlechte Meinung über andere hat und sich seltener täusche; denn im letzteren Falle tut er dem anderen Unrecht, nicht aber im ersten.4 Es ist also besser zu irren, indem man gut denkt, als zu schaden, indem man schlecht denkt. Paradoxerweise, so Papst Franziskus in seinem Schreiben über den heiligen Josef, „kann uns auch der Böse die Wahrheit sagen, aber wenn er dies tut, dann nur, um uns zu verurteilen. Wir wissen jedoch, dass die Wahrheit, die von Gott kommt, uns nicht verurteilt, sondern aufnimmt, umarmt, unterstützt und vergibt.“5 Der heilige Josefmaria empfahl: „Mache es dir zur Gewohnheit, stets warmherzig über Dinge und Menschen zu sprechen, ganz besonders dann, wenn diese Menschen im Dienste Gottes arbeiten. Wo das nicht möglich ist – schweige! Denn auch rasch dahingesagte und zwanglose Bemerkungen grenzen bisweilen an üble Nachrede oder Diffamierung.6


WÜRDEST DU, HERR, die Sünden beachten, mein Herr, wer könnte bestehen? (Ps 130,3), fragen wir uns mit dem Psalmisten. Deshalb ist es uns eine Wonne, zu bedenken, wieviel Gott jedem von uns vergeben hat, und seine unentgeltliche Liebe zu betrachten, mit der er uns trotz unserer Treulosigkeiten beschenkt. Paradoxerweise führt dennoch der Neid manchmal dazu, dass wir über die Güter anderer traurig werden, insbesondere über die Liebe oder die Ehre, die sie erhalten. Wenn wir uns der Wertschätzung Gottes für jeden von uns voll bewusst wären, gäbe es in unseren Herzen keinen Platz für diese Abwegigkeit.

Der heilige Pfarrer von Ars sagte: „Wenn wir das Glück hätten, frei von Stolz und Neid zu sein, würden wir uns nie Urteile über jemanden anmaßen, sondern uns damit begnügen, unser geistliches Elend zu beklagen, für die armen Sünder zu beten, und das wäre alles, in der festen Überzeugung, dass Gott uns nicht für die Taten anderer zur Rechenschaft ziehen wird, sondern nur für unsere eigenen.7 Solange wir jedoch nicht lernen, uns an den Gütern der anderen zu erfreuen, an ihrem Glanz, der über unserem eigenen liegt, wird uns der Neid während unseres gesamten Lebenswegs auf Erden begleiten. Zu unserem Glück nimmt Jesus ein ungerechtes Urteil an, das seine Ehre verletzt, damit wir von jeglicher Strafe befreit werden; damit wir vom Bedürfnis selbst befreit werden, zu richten und uns selbst zu richten.

Der heilige Josefmaria schrieb: „Die Allerheiligste Dreifaltigkeit hat unsere Mutter als Königin gekrönt. – Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist werden Rechenschaft von uns verlangen für jedes unnütz gesprochene Wort. Wir wollen deshalb Unsere Liebe Frau bitten, uns zu lehren, uns stets im Bewusstsein der Gegenwart Gottes zu äußern.8


1 Hl. Augustinus, Sermo 46, Über die Hirten, 27.

2 Franziskus, Audienz, 3.11.2021.

3 Franziskus, Patris corde, Nr. 2.

4 Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 60, a. 4, ad 1.

5 Franziskus, Patris corde, Nr. 2.

6 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 902.

7 Hl. Pfarrer von Ars, Predigt über das Urteilen.

8 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 926.