Betrachtungstext: 25. Woche im Jahreskreis (1) - Freitag

Wer ist Jesus für mich? - Die neue Logik des Kreuzes. - Nehmt das Kreuz mit Freude an.

"FÜR WEN halten mich die Leute?" (Lk 9,18). Zunächst scheint es, als wolle Jesus durch seine Jünger die Vielfalt der Meinungen über seine Gestalt erfahren. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: "Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden" (Lk 9,19). Alle Wahrnehmungen, die ihm zugetragen wurden, kommen ans Licht. Doch in einem zweiten Moment stellt der Herr eine weitere Frage, die sie diesmal nachdenklicher werden lässt: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?” (Lk 9,20).

Es herrscht Schweigen. Ihre Blicke treffen sich. Die Apostel, die Sekunden zuvor noch alle gleichzeitig gesprochen haben, scheinen nun in sich selbst versunken zu sein und nachzudenken. Vielleicht spüren sie einen gewissen Schwindel, wenn sie in ihr eigenes Herz eindringen. Denn diese Frage verlangt eine Antwort aus dem tiefen Zentrum der Seele, wo der Heilige Geist wohnt. Petrus ist der einzige, der antwortet: "Für den Christus Gottes" (Lk 9,20). “Christus" bedeutet wörtlich "der Gesalbte", der von Gott Auserwählte, der eine Aufgabe erfüllen soll. Und in diesem Fall nicht einfach ein Gesalbter wie andere in der Geschichte Israels, sondern der Gesalbte schlechthin, der Gesandte, "der Sohn des lebendigen Gottes!" (Mt 16,16).

Dies ist eine allgegenwärtige Position im Leben eines jeden Menschen. Auch wenn wir das Christentum mehr oder weniger gut kennen und in einer gewissen Frömmigkeit leben, können wir uns immer wieder aufs Neue die Frage stellen, die sich die Apostel gestellt haben: "»Wer ist Jesus für einen jeden einzelnen von uns?« Für mich, für dich, für dich, für dich und für dich…? Wer ist Jesus für einen jeden von uns? Wir sind dazu aufgefordert, die Antwort des Petrus zu der unsrigen zu machen und voll Freude zu bekennen, dass Jesus der Sohn Gottes ist, das ewige Wort des Vaters, das Mensch geworden ist, um die Menschheit zu erlösen und über sie die Fülle der göttlichen Barmherzigkeit auszugießen".1

NACH DEM Glaubensbekenntnis des Petrus bewegt sich das Gespräch auf einem Gebiet, das für die Apostel sehr überraschend gewesen sein muss. Es war eines der ersten Male, dass jemand öffentlich verkündete, Christus sei der Sohn Gottes, der erwartete Messias. Und Jesus leugnet es nicht, sondern bittet sie, für den Moment darüber zu schweigen; und dann kündigt er seinen Jüngern die Art und Weise an, wie er seine Heilsmission durchführen wird. Er offenbart ihnen, dass "der Menschensohn vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden muss; er muss getötet und am dritten Tage auferweckt werden" (Lk 9,22).

Christus offenbart, dass das Heil nicht mit Gewalt erlangt werden kann. Der Messias wird kein Herrscher auf menschliche Weise sein. Er wird herrschen, aber vom Kreuz aus, das bis dahin nur ein Galgen war, an dem Übeltäter hingerichtet wurden. Er wird uns retten, aber durch die vollständige Hingabe seiner selbst in der Passion. Jesus verkündet eine neue Logik, die nicht von dieser Welt ist: die Logik der Gabe und des Kreuzes. Das Kreuz ist der Sitz einer neuen Weisheit, vor der wir Partei ergreifen müssen: Die einen werden sie als absurd oder skandalös ablehnen; die anderen werden sie lieben und annehmen, weil sie verstehen, dass das Kreuz die "Kraft Gottes" (1 Kor 1,18) ist, die von Sünde und Tod befreit.

Der Prälat des Opus Dei erinnert uns daran: "Wir brauchen Jesus Christus, um unsere eigene Freiheit endgültig zu heilen; und im Kreuz hat er für uns die tiefste Befreiung erlangt: die Befreiung von der Sünde, die unsere Seele reinigt, damit wir unsere wahre Identität als Kinder Gottes entdecken können".2 Das Paradox des Kreuzes prägt das tägliche Leben des Christen, es erfüllt es mit jener überlegenen Logik, die aus Demut und Selbsthingabe besteht. "O kostbarstes Geschenk des Kreuzes, welch herrliches Aussehen hat es (...). Es ist ein Baum, der Leben hervorbringt, ohne den Tod zu verursachen; der erleuchtet, ohne Schatten zu werfen; der ins Paradies führt, ohne jemanden daraus zu vertreiben".3

"DIE JUDEN fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit" (1 Kor 1,22-23). Diese Passage aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther hatte der heilige Josefmaria in ein Manuskript mit 122 Texten aufgenommen, das er zu Beginn der 1930er Jahre eifrig meditierte. Schon damals vermittelte er den ersten Menschen, die zum Opus Dei kamen, dass es nicht möglich ist, Jesus Christus nachzufolgen, mit ihm an seinem Heilswerk mitarbeiten zu wollen, ohne das Kreuz auf sich zu nehmen. An ein großes Holzkreuz denkend, das er in einem Raum der Akademie DYA, der ersten Einrichtung des Opus Dei, aufgehängt hatte, schrieb er: "Wenn du ein armes Holzkreuz siehst, einsam, erbärmlich, wertlos... und ohne Gekreuzigten, dann wisse, daß dieses Kreuz dein Kreuz ist: das Kreuz jeden Tages, verborgen, ohne Glanz und ohne Trost..., das auf seinen Gekreuzigten wartet. Dieser Gekreuzigte mußt du sein".4

Das Kreuz ist paradoxerweise, da es mit dem Leben Christi verbunden ist, eine Quelle der Freude; wenn wir es annehmen, lassen wir die Allmacht Gottes in uns wirken. "Mit welcher Liebe umarmt Jesus das Holz, an dem Er sterben wird! Ist es nicht wirklich so, daß du dich glücklich fühlst und alle Belastungen, alle körperlichen oder seelischen Schmerzen überwindest, sobald du das Kreuz ‒ das, was die Menschen Kreuz nennen ‒ nicht mehr fürchtest und deinen Willen ganz mit dem göttlichen Willen vereinigst?".5 Und das können wir nicht nur in außergewöhnlichen Momenten, anlässlich einer Krankheit, einer Verfolgung oder eines schweren Rückschlags, sondern in jedem Augenblick unseres gewöhnlichen Lebens: mit den kleinen täglichen Kreuzen glücklich sein. Kurz vor dem Ende der Passionszeit hat Jesus uns Maria als Mutter geschenkt. "’Cor Mariae perdolentis, miserere nobis!’ ‒ Rufe das heiligste Herz Mariens an mit dem festen Vorsatz, dich mit ihrem Schmerz zu vereinen, als Sühne für deine Sünden und für die Sünden aller Menschen aller Zeiten".6


1 Papst Franziskus, Angelus, 19-VI-2016.

2 Msgr. Fernando Ocáriz, Homilie, 18-IV-2019.

3 Hl. Theodor Estudita, Oratio in adorationem crucis.

4 Hl. Josefmaria, Weg, Nr. 178.

5 Hl. Josefmaria, Kreuzweg, II. Station.

6 Hl. Josefmaria, Spur, Nr. 258.

Foto: Alex Umbelino (pexels)