DIE SCHRIFTGELEHRTEN und Pharisäer beschweren sich bei Jesus: Die Jünger des Johannes fasten und beten viel, ebenso die der Pharisäer; deine Jünger aber essen und trinken (Lk 5,33). Die Lehrer des Volkes wissen um die Verbindung zwischen dem Täufer und Jesus. Sie rechnen damit, Jesus mit seiner „ausgelassenen“ Anhängerschaft durch den Vergleich mit der asketischen Anhängerschaft des Vorläufers in Bedrängnis bringen zu können. Der wahre Grund für ihre Beschwerde liegt allerdings darin, dass es ihnen schwerfällt, das Neue zu akzeptieren, das Jesus von Nazaret bringt. Die vom Messias verkündeten Wahrheiten und die Art und Weise, wie er sie darlegt, sind für sie verwirrend und unbequem. In ihren Augen ist es eine Sache, zur Umkehr gerufen zu werden und die eigene Sündhaftigkeit einzugestehen, und eine andere, den Retter der Welt, das Fundament und den Daseinsgrund des Volkes Israel, anzuerkennen.
Das Problem bei Vergleichen – sowohl im Allgemeinen als auch in diesem Fall – besteht darin, dass sie eine größere Wahrheit verschleiern. Vergleiche entstehen oft aus Unbehagen, Unzufriedenheit oder Rebellion. Das urteilende Subjekt stellt sich selbst in den Mittelpunkt und wählt ein Beurteilungskriterium, das die eigene Position rechtfertigt. Persönliche Erfahrungen werden als absolute Wahrheiten dargestellt, ohne zu erkennen, dass die Welt größer ist als die eigene begrenzte Perspektive. Wer sich beschwert, greift auf sein begrenztes Wissen zurück, um seine Sichtweise zu stützen. Hier ist das Beurteilungskriterium das Fasten, da einige Schriftgelehrte und Pharisäer gerne zur Schau stellten, dass sie fasteten.
Der heilige Josefmaria ermutigte uns, nicht vorschnell zu urteilen, sondern die Dinge gut abzuwägen, um eine umfassendere Sichtweise zu gewinnen. „Jeder sieht die Dinge von seinem Blickwinkel aus … und mit einem Verstand, der fast immer sehr begrenzt ist, und oft sind die Augen getrübt und verschwommen, vernebelt von der Leidenschaft.“1 Und er fügte hinzu, dass es sein kann, wie wenn man ein sehr abstraktes Kunstwerk betrachtet und auf die Schwierigkeit stößt, die dargestellte Figur zu erkennen. „Die Sicht mancher Menschen ist derart subjektiv und krankhaft, dass sie einige willkürliche Züge hinwerfen und uns versichern, dies sei unser Porträt, unser Verhalten …Wie wenig taugen menschliche Urteile! – Urteilt nicht, ohne euer Urteil vorher im Gebet zu prüfen.“2
ES GIBT Vergleiche, wie den der Pharisäer und Schriftgelehrten, die zum Zweck der Kritik eingesetzt werden. Es gibt aber auch andere Vergleiche, die helfen können, die Realität besser zu verstehen. Jede Annäherung an das Leben, an eine Person oder an eine Handlungsweise beinhaltet ein Vorurteil. Dabei wird eine Synthese des bereits erlangten Wissens vorgenommen, die eigene Sichtweise auf die Situation projiziert und scheinbar vorhergesehen, was geschehen wird. Beispiele dafür sind: „Wenn ich früher mit dem Lernen anfange, bin ich sicher, dass ich bei der Prüfung besser abschneide.“ „Ich denke, er wird sich über dieses Geschenk freuen.“ „Er sieht müde aus, und das wird wohl der Grund sein.“ „Wenn wir in diese Richtung gehen, werden wir wahrscheinlich stecken bleiben.“
All diese Urteile basieren auf bestimmten Kriterien, die uns dabei helfen, die besten Mittel zur Erreichung eines Ziels zu erkennen, wie etwa die angemessenste Art, eine Person zu behandeln, damit sie sich willkommen fühlt. Doch entscheidend ist, dass wir das ultimative Kriterium der Beurteilung kennen. Dieser Maßstab für unser Handeln trägt einen Namen. Als Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern antwortet, gibt er ihnen zu verstehen, dass er selbst das wahre Maß für den Vergleich ist: Könnt ihr denn die Hochzeitsgäste fasten lassen, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam weggenommen sein; dann, in jenen Tagen, werden sie fasten (Lk 5,34-35). Ob gefastet wird oder nicht, hängt von der Gegenwart Jesu ab. Beide Optionen sind gut, doch in seiner Gegenwart ist das Fasten nicht nötig, da es dazu dienen soll, Gott näher zu kommen – und sie hatten ihn bereits vor Augen.
Papst Franziskus schrieb einmal: „Je mehr Jesus den Mittelpunkt unseres Lebens einnimmt, desto mehr führt er uns dazu, aus uns selbst hinauszugehen, uns selbst aus dem Mittelpunkt zu nehmen und uns den anderen zuzuwenden.“3 Wenn wir viel Zeit mit jemandem verbringen, übernehmen wir oft unbewusst einige seiner Gesten oder Ausdrucksweisen. Ebenso lernen wir, indem wir dem Herrn nahe sind, die Wirklichkeit aus seiner Perspektive zu beurteilen und vor allem mit seinem Herzen anzunehmen. Ob bei der Arbeit, in der Universität oder in unserer Freizeit – wir können uns immer wieder die Frage stellen, die Papst Franziskus einst den Jugendlichen empfahl: „Was würde Jesus an meiner Stelle tun?“ Und er ermutigte sie: „Der Tag wird kommen, an dem ein jeder von euch, ohne dass ihr es merkt, den gleichen Pulsschlag haben wird wie Jesus.“4
JESUS ist sich der Tatsache bewusst, dass die Beurteilung der Wirklichkeit, wie er sie vorschlägt, keine kleine Neuerung darstellt. Daher erzählt er zwei Gleichnisse, die zeigen, wie ein solcher Übergang vonstatten gehen kann. Niemand schneidet ein Stück von einem neuen Gewand ab und setzt es auf ein altes Gewand. Sonst würde ja das neue Gewand zerschnitten und zu dem alten würde das Stück von dem neuen nicht passen. Auch füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst würde ja der junge Wein die Schläuche zerreißen; er läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. Sondern: Jungen Wein muss man in neue Schläuche füllen (Lk 5,36-38).
Die Botschaft, die Jesus Christus bringt, verlangt nach einem neuen Herz. Es reicht nicht aus, nur das äußere Verhalten zu ändern. Der neue Wein verlangt nach neuen Schläuchen, was bedeutet, die Ansätze, die das eigene Leben bisher bestimmt haben, zu überwinden und den Herrn zum neuen Bezugspunkt werden zu lassen. Und genau das haben viele Zeitgenossen Jesu versäumt. Der heilige Josefmaria schrieb: „Die Sünde der Pharisäer bestand nicht darin, dass sie in Christus nicht Gott sahen, sondern dass sie sich willentlich verschlossen und nicht zuließen, dass Jesus, das Licht selbst, ihnen die Augen öffnete. Diese Verschlossenheit hat unmittelbare Auswirkungen auf die Beziehung zu unseren Mitmenschen. Der Pharisäer, der meint, selbst Licht zu sein, und nicht zulässt, dass Gott ihm die Augen öffnet, wird dem Nächsten voller Hochmut und Ungerechtigkeit begegnen.“5
Gott bietet uns neue Schläuche an – Wege, um seinen „Wein“ aufzunehmen und zu bewahren. Diese neuen Schläuche können sich in verschiedenen Formen zeigen: im häufigen Empfang der Sakramente, im Gebet, im Dienst am Nächsten, in der guten Arbeit, in der geistlichen Begleitung und in der beständigen Suche nach Gott. Diese Praktiken schaffen den richtigen Rahmen, damit der Wein – das Gute, das Gott uns schenkt – mit der Zeit in uns reifen kann. Wenn wir den neuen Wein einmal gekostet haben, den der Herr uns schenkt, werden wir erkennen, wie wertvoll diese neuen Schläuche sind. Und wie die Gottesmutter bei der Hochzeit zu Kana werden wir erfahren, dass es keinen besseren Wein gibt als den, den ihr Sohn uns anbietet.
1 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 451.
2 Ebd.
3 Franziskus, Botschaft, 5.7.2017.
4 Franziskus, Ansprache, 17.1.2018.
5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 71.