Betrachtungstext: 10. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Jesus offenbart die Fülle des Gesetzes – Die Freiheit als Weg zum Himmel – Das Reich und die kleinen Dinge

JESUS WURDE mehrfach beschuldigt, die Religion von Mose und Abraham zerstören zu wollen. Der Herr verkündigt im Gegenteil, dass er nicht gekommen ist, das Alte abzuschaffen, sondern uns seinen vollen Sinn zu erschließen, seine tiefste Bedeutung zu offenbaren (vgl. Mt 5,17). Christus eröffnet seinen Zeitgenossen die Möglichkeit – und er eröffnet sie auch uns –, in den göttlichen Geboten einen Weg echter innerer Freiheit zu finden. Gott hat sich offenbart und uns seinen Sohn gesandt, um uns freier zu machen. Zur Freiheit hat uns Christus befreit, sagt der heilige Paulus. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen! (Gal 5,1).

Im Licht der neuen Lehre Jesu, sagt Papst Franziskus, „offenbart jedes Gebot seine volle Bedeutung als Erfordernis der Liebe, und alle vereinen sich im größten Gebot: Liebe Gott aus ganzem Herzen und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“1 Selbst jedes Jota und Häkchen (Mt 5,18) der kirchlichen Lehre, sei es in der Dogmatik oder Moral oder Liturgie usw., hat nur ein Ziel: uns ein Anstoß zu sein, den wahren Gott und um seinetwillen unsere Mitmenschen zu lieben. Und Liebe, wenn auch stets mit ihren normalen Schwierigkeiten, gibt es nur in einer Sphäre der Freiheit.

Daher kann Jesus sagen, dass seine Nahrung darin besteht, den Willen des Vaters zu tun. Er „fügt sich“ nicht in diesen Willen, als ob er lieber etwas anderes tun wollte, sondern er begehrt ihn heiß, er will alle seine Neigungen mit ihm identifizieren, weil er darin seine Freiheit findet. Christus geht sogar so weit, dass er seinem Vater dankt, bevor er zu seinem größten Akt der Selbsthingabe schreitet, als er am Vorabend seiner Passion sein Leben in der Eucharistie freiwillig hingibt. In Gott finden wir die tiefste Freiheit. Sie hilft uns, unsere Mitmenschen mehr und besser zu lieben.


LASST UNS DARAN denken, wie der Himmel sein wird“, schlug der heilige Josefmaria vor: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9). Könnt ihr euch vorstellen, wie es sein wird, dort anzukommen, Gott zu begegnen und diese Schönheit zu sehen, diese Liebe, die sich in unsere Herzen ergießt, die sättigt, ohne zu satt zu machen? Ich frage mich viele Male am Tag: Wie wird es sein, wenn all die Schönheit, all die Güte, all das unendlich Wunderbare Gottes in dieses arme irdene Gefäß, das ich bin, das wir alle sind, ergießt?“2 Auch der heilige Thomas von Aquin lädt zur Freude auf den Himmel ein, da das ewige Leben „die vollkommene Befriedigung jedes Verlangens ist. Dort haben die Seligen mehr, als sie sich gewünscht oder erhofft haben. Der Grund dafür ist“, so der Heilige weiter, „dass in diesem Leben niemand all sein Verlangen befriedigen noch etwas Geschaffenes jemals die Sehnsucht des Menschen stillen kann.“3

Der Gedanke an den Himmel hilft uns zugleich, die Welt besser zu verstehen und Situationen und Problemen ihre wahre Bedeutung zu geben. Papst Benedikt schrieb: „Weil der Mensch immer frei bleibt und weil seine Freiheit immer auch brüchig ist, wird es nie das endgültig eingerichtete Reich des Guten in dieser Welt geben. Wer die definitiv für immer bleibende bessere Welt verheißt, macht eine falsche Verheißung; er beachtet die menschliche Freiheit nicht. Die Freiheit muss immer neu für das Gute gewonnen werden.4

Das Bemühen darum, auf dieser Erde immer freier, immer mehr von Gott erfüllt zu werden und immer weniger von unserem kleinlichen Egoismus, ist genau der Weg zum Himmel. „Um den Weg der Heiligkeit zu gehen, ist es notwendig, frei zu sein“, sagt auch Papst Franziskus. „Und wenn wir (...) zur Lebensweise zurückkehren, die wir vor der Begegnung mit Jesus Christus hatten, wenn wir zu den Schemata der Welt zurückkehren, verlieren wir die Freiheit. (...) Wenn wir das Buch Exodus lesen, bemerken wir gewiss oft, dass das Volk Gottes nicht nach vorne und auf das Heil blickt, sondern umkehren wollte. Es heißt, dass sie sich beklagten, da sie vergessen hatten, dass Gott sie vorwärts brachte, in das Land, das er verheißen hatte. Und sie stellten sich das schöne Leben vor, das sie in Ägypten gehabt hatten. (...) So kommt es“, sagt der Papst weiter, „dass das Volk in schwierigen Momenten kehrt macht, dass es nicht mehr kann, dass es die Freiheit verliert.“5 Diese Welt ist der Ort, wo wir uns mit Hilfe der Gnade auf das vorbereiten können, was wir später im Himmel erleben können: uns immer für Gott zu entscheiden, frei von jeder Bindung oder Verwirrung.


WER AUCH NUR eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich (Mt 5,19). Was können die kleinsten Gebote mit dem Himmelreich zu tun haben? Jesus verbindet das Streben nach Heiligkeit mit der Fähigkeit, im Alltäglichen zu lieben und geliebt zu werden. Der Himmel ist letztlich eine Frage, wie sehr wir es Gott erlauben, in jedem Augenblick des Tages unser liebender Vater zu sein, und wie sehr wir uns auch in den kleinsten Dingen von ihm begleitet wissen. Diese kleinsten Gebote hält, wer immer wieder aufsteht und nicht müde wird, in derselben Sache zu kämpfen, wer aufrichtig ist sich selbst und Gott gegenüber und sich bedürftig sieht. Diese kleinsten Gebote erfüllt, wer dem Allerwichtigsten den Vorrang zu geben weiß und deshalb in Liebe darauf achtet, dass ihm nichts entgeht.

Der heilige Josefmaria schrieb in einem seiner Briefe: „Vielleicht denkt manch einer, dass es im gewöhnlichen Leben wenig gibt, das man Gott anbieten kann: Kleinigkeiten, Nichtigkeiten. Ein kleines Kind, das seinem Vater Freude machen will, bietet ihm an, was es hat: einen Bleisoldaten ohne Kopf, eine leere Garnrolle, ein paar Steinchen, zwei Knöpfe: alles was es an Wertvollem in seinen Taschen hat, seine Schätze. Und der Vater stößt sich nicht an der kindlichen Einfachheit des Geschenks. Er ist dankbar dafür und drückt das Kind zärtlichst an sein Herz. Handeln wir so vor Gott, dann werden diese Kindereien – diese Kleinigkeiten – zu großen Dingen, weil die Liebe groß ist. Das ist unser Weg: die unbedeutenden Kleinigkeiten eines jeden Tages, eines jeden Augenblicks, aus Liebe heroisch werden zu lassen.6 Maria sagt immer Ja zu allem, worum ihr Sohn sie bittet, weil sie weiß, dass Gott ihr auf diese Weise seine Freude und sein Glück schenkt. Wir können unsere Mutter bitten, uns die Weisheit zu geben, den Willen Gottes mit eben solchen Augen zu sehen.


1 Franziskus, Angelus-Gebet, 16.2.2014.

2 Hl. Josefmaria, Notizen von einem Familientreffen, 22.10.1960.

3 Hl. Thomas von Aquin, Über das Credo, Articulus 12 (1. c., III.): Item in perfecta satietate desiderii: nam ibi habebit quilibet beatus ultra desiderata et sperata. Cuius ratio est, quia nullus potest in vita ista implere desiderium suum, nec unquam aliquod creatum satiat desiderium hominis.

4 Benedikt XVI., Spe salvi, Nr. 24.

5 Franziskus, Tagesmeditation, 29.5.2018.

6 Hl. Josefmaria, Briefe 1, Nr. 19.

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