Betrachtungstext: 5. Dezember – 6. Tag der Novene zur Unbefleckten Empfängnis

Maria bewegt das Herz Gottes – Mutter der Barmherzigkeit – Die Vergebung Jesu wahrnehmen

MIT Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden (Mt 5,7), verkündet Jesus eine weitere Seligpreisung. Ihre Besonderheit liegt in der Wechselseitigkeit. Denn die Barmherzigkeit, die wir anderen gegenüber erweisen, wird uns als Geschenk Gottes wieder zuteil. Und es besteht ein weiterer Zusammenhang: Das göttliche Erbarmen, das wir empfangen, treibt uns an, selbst barmherzig zu sein. Dieses Prinzip spiegelt sich deutlich im Leben der Unbefleckten Jungfrau Maria wider, etwa bei der Hochzeitsszene zu Kana.

Während die Gäste das Brautpaar feiern, hat Maria das Wohl aller im Blick. Sie bemerkt, dass etwas in der Luft liegt und stellt fest: Es gibt keinen Wein mehr. „Inmitten der Festfreude in Kana bemerkt allein Maria, dass der Wein ausgeht“, kommentiert der heilige Josefmaria und folgert: „Die Seele dessen, der sich, wie sie, Gott zuliebe leidenschaftlich um seinen Nächsten kümmert, nimmt auch noch die geringste Möglichkeit zu dienen wahr.“1

Maria hat Mitleid mit dem Brautpaar und beschließt, in dieser unangenehmen Lage für Abhilfe zu sorgen. Sie weiß, dass das Herz ihres Sohnes noch reicher an Erbarmen ist und ihm die Probleme anderer nicht gleichgültig sind. Daher spricht sie ihn an: Sie haben keinen Wein mehr (Joh 2,3). Mehr sagt sie nicht. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es keiner großen Reden bedarf, um das Herz ihres Sohnes zu bewegen. Es genügt, die eigene Bedürftigkeit darzulegen, und er übernimmt den Rest, ohne uns aus der Hand zu lassen. Der heilige Papst Johannes Paul II. kommentierte dazu treffend: „Maria stellt sich zwischen ihren Sohn und die Menschen in der Realität ihrer Entbehrungen, Nöte und Leiden. Sie stellt sich ,dazwischen‘, das heißt, sie tritt als Mittlerin auf, nicht als Fremde. Sie tritt auf in ihrer Rolle als Mutter und ist sich dessen bewusst, dass sie als solche dem Sohn die Nöte der Menschen vortragen kann, ja sogar ,das Recht dazu hat‘.“2 Genau das tut sie in dieser Novene, wenn wir unsere Sorgen in ihre Hände legen.


DIE ANTWORT JESU auf den Hinweis seiner Mutter entspricht keineswegs unseren Erwartungen: Was hast du mit mir zu tun, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen (Joh 2,4 nach einer älteren Übersetzung). Seine Reaktion erscheint uns rätselhaft und sogar verstörend. Mit Papst Benedikt möchten wir einwenden: „Viel hast du zu tun mit ihr. Sie hat dir Fleisch und Blut gegeben, deinen Leib. Und nicht nur den Leib; sie hat dich mit ihrem aus dem Herzen kommenden Ja getragen und dich mit mütterlicher Liebe ins Leben, in die Gemeinschaft des Volkes Israel eingeführt und eingelebt.“3

Papst Benedikt führte uns in einer bemerkenswerten Homilie in Altötting dann aber tiefer in die Szene hinein. Er wies darauf hin, dass die Tradition in ihr eine Parallele zur Kreuzigungsszene sieht. Beide Momente sind von der Anwesenheit Marias geprägt und beide Male spricht Jesus sie mit „Frau“ an, wodurch er sie als die neue Eva hervorhebt, mit der er sich eins weiß im Wunsch, in allem den Willen Gottes zu erfüllen. In Kana legte Maria Fürsprache ein, als „die Stunde“ ihres Sohnes noch nicht gekommen war, auf Golgatha hat sie sich erfüllt. Und damals gewährte ihr Jesus nicht nur die Bitte um das Wohlergehen einer kleinen Hochzeitsgesellschaft, sondern vertraute ihr, wie Johannes Paul II. darlegt, „seine Kirche und die ganze Menschheit an. Als sie zu Füßen des Kreuzes Johannes als Sohn annimmt, als sie zusammen mit Christus den Vater für jene um Vergebung bittet, die nicht wissen, was sie tun (vgl. Lk 23, 34), erfährt Maria in vollkommener Fügsamkeit gegenüber dem Geist die Fülle und Universalität der Liebe Gottes, die ihr das Herz weitet und sie fähig macht, das ganze Menschengeschlecht zu umfangen. So ist sie zur Mutter von uns allen und jedes einzelnen von uns geworden, eine Mutter, die für uns die göttliche Barmherzigkeit erlangt.“4

Das Herz der Unbefleckt Empfangenen, das sich der Verlegenheit jener Brautleute annahm, ist dazu berufen, alle Menschen in der unendlichen und bedingungslosen Liebe Gottes zu vereinen. Maria erinnert uns daran, dass ihr Sohn nicht gekommen ist, Gerechte zu rufen, sondern Sünder (Mt 9,13). Gottes Barmherzigkeit scheut vor niemandem zurück. Johannes Paul II. bezeugt: „Keine Sünde des Menschen vermag die Barmherzigkeit Gottes auszulöschen oder daran zu hindern, ihre ganze siegreiche Kraft zu verströmen, sobald wir um sie flehen. Ja, gerade die Sünde lässt die Liebe des Vaters noch stärker erstrahlen, der, um den Knecht loszukaufen, seinen Sohn geopfert hat: Seine Barmherzigkeit für uns ist Erlösung.“5


IN PERFEKTER Einheit des Willens mit dem Vater, die Maria mit ihrem Sohn teilt, geht sie nach der scheinbar abweisenden Antwort Jesu ganz einfach zu den Dienern und sagt: Was er euch sagt, das tut! (Joh 2,5). Nun leistet ihr Sohn keinen Widerstand mehr und vollbringt das Wunder, das die menschliche Hochzeit zu einem Abbild des göttlichen Hochzeitsfestes macht, zu dem Vater und Sohn einladen. Jesus lässt die Diener die Krüge mit Wasser füllen, und als der Kellermeister den Inhalt verkostet, ist er erstaunt: Jeder setzt zuerst den guten Wein vor, sagt er zum Bräutigam, und erst, wenn die Gäste zu viel getrunken haben, den weniger guten. Du jedoch hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt (Joh 2,10).

Das Fest dürfte wie üblich verlaufen sein. Den meisten Gästen war wahrscheinlich nicht bewusst, welches Wunder sich gerade ereignet hatte. Sie dürften den Wein zwar genossen haben, wussten aber nicht, woher er kam. Wenn Jesus uns später auffordert, barmherzig zu sein, um Barmherzigkeit zu erlangen, ermutigt er uns, anderen großzügig das Beste zu geben, das wir im Herzen tragen, ohne darauf zu warten, dass sie es verdienen, denn so handelt Gott auch mit uns. Wir können unsere Liebe sogar dann anbieten, wenn uns Unrecht getan wurde, denn wir leben von der Gabe Gottes. Papst Franziskus sagte in diesem Sinn: „Jeder soll sich daran erinnern, dass er vergeben soll und dass er Vergebung braucht, dass er Geduld braucht; das ist das Geheimnis der Barmherzigkeit: Wer vergibt, dem wird vergeben.“6 Gott geht uns mit seiner Vergebung voraus, damit wir anderen gegenüber barmherzig sein können.

Jesus möchte, dass wir durch diese Seligpreisung erkennen, dass wir mehr empfangen haben, als wir je zurückgeben können. In vielerlei Hinsicht stehen wir bei jemandem in der Schuld, vor allem gegenüber Gott, aber auch gegenüber vielen anderen Menschen, die uns so viel Gutes erwiesen haben: Eltern, Geschwister, Freunde. Deshalb haben wir es nötig, barmherzig zu sein, denn in vielen dieser Beziehungen werden wir nie in der Lage sein, das viele Gute, das wir erhalten haben, angemessen zurückzugeben. Auf dem Weg der Vorbereitung auf das Fest der Unbefleckten Empfängnis zeigt uns Maria, dass wir, wie Papst Franziskus betonte, „nur dann wirklich selig und glücklich sein werden, wenn wir uns in die göttliche Logik des Geschenks, der unentgeltlichen Liebe hineinbegeben, wenn wir entdecken, dass Gott uns unendlich geliebt hat, um uns fähig zu machen, so zu lieben wie er: ohne Maß.“7


1 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 631.

2 Hl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater, Nr. 21.

3 Benedikt XVI., Homilie in Altötting, 11.9.2006.

4 Hl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, Nr. 120.

5 Ebd., Nr. 118.

6 Franziskus, Generalaudienz, 18.3.2020.

7 Franziskus, Botschaft zum Weltjugendtag, 15.8.2015.