Betrachtungstext: 28. Dezember – Fest der Unschuldigen Kinder

Die Umstände, unter welchen Jesus zu uns kam – Josef handelt mit Glauben und Realismus – Die unschuldigen Kinder und der Schmerz der Mütter

STEH AUF, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten (Mt 2,13). Mit diesen knappen Worten weckt der Engel Josef auf, damit er das Leben des Jesukindes rette. Auffallend ist, dass der Engel seine Rede diesmal nicht mit einem tröstlichen „Fürchte dich nicht“ beginnt; denn diesmal gibt es wahrlich Gründe, sich zu fürchten, Schreckliches steht bevor. Ein eifersüchtiger und ängstlicher König versucht, Christus zu töten. Jesus trifft bereits im zartesten Kindesalter auf Feinde.

Josef lässt sich nicht von der Angst überwältigen und weckt Maria behutsam auf. Gestern noch haben sie den Besuch der heiligen drei Könige genossen. Der Duft des Weihrauchs und der Glanz des Goldes, das sie schenkten, erfüllen noch immer ihre Unterkunft. Doch nun müssen sie sich in Sicherheit bringen und unauffällig entkommen.

Anlässlich dieser neuen Wende der Geschichte lädt uns Papst Franziskus ein, die leidvollen Umstände zu erkennen, unter denen Gott Mensch werden wollte: „Die Krippe zu betrachten heißt auch, dieses Weinen zu betrachten. Es bedeutet auch, hören zu lernen, was rundherum geschieht, und ein Herz zu haben, das empfindsam und offen ist gegenüber dem Schmerz des Nächsten ... Die Krippe zu betrachten und sie dabei vom Leben, das sie umgibt, zu isolieren, würde heißen, aus dem Weihnachtsgeschehen ein schönes Märchen zu machen, das in uns gute Gefühle hervorzurufen zwar imstande wäre, uns aber der schöpferischen Kraft der Frohbotschaft berauben würde, die uns das menschgewordene Wort schenken will. Und diese Versuchung gibt es.1


IM HERZEN Marias beginnt sich die Prophezeiung des Simeon zu erfüllen: Deine Seele wird ein Schwert durchdringen (Lk 2,35). Die Mutter Christi gewöhnt sich allmählich daran, augenblicklich aufzubrechen – ohne Überstürzung, aber auch ohne unnötige Verzögerung. Es gibt auch diesmal keine Zeit, sich zu verabschieden. Warum stellt Jesus für Herodes eine Bedrohung dar? Maria und Josef verstehen es vielleicht nicht, bilden sich aber kein Urteil über die göttlichen Pläne. Sie lehnen sich nicht auf. Bevor sie losziehen, beten sie, damit Gott sie beschützt und auf dieser neuerlichen Reise segnet. Die Schwierigkeiten trüben nicht ihren Blick, auch wenn sie für das Kind fürchten.

Josef musste bereits mehrere Herausforderungen bestehen, insbesondere die Schwangerschaft Marias und später die Tatsache, dass sie knapp vor der Geburt Jesu nach Bethlehem reisen mussten und dort keine Herberge fanden, die sie aufnahm. Und nun müssen sie obendrein flüchten. Den heiligen Josefmaria beeindruckte die Reaktion Josefs: „Seht ihr, was für ein Mann des Glaubens er ist? (...) Wie er gehorcht! Nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten, befiehlt ihm der Gottesbote. Und er tut es. Er glaubt an das Werk des Heiligen Geistes!2 Der irdische Vater Jesu hat seine Aufgabe vollkommen übernommen und weiß, dass nun jede Minute zählt. Da er sieht, dass Maria sich Gott, aber auch ihm restlos anvertraut hat, beschließen sie, noch bei Dunkelheit aufzubrechen.

Der heilige Josef“, so predigte Papst Franziskus, „war als erster berufen, die Freude des Heils zu behüten. Angesichts der grausamen Verbrechen, die gerade geschahen, war der heilige Josef (...) fähig, auf die Stimme Gottes und die ihm vom Vater anvertraute Sendung zu hören. Und weil er auf die Stimme Gottes zu hören wusste und sich von Gottes Willen leiten ließ, wurde er immer empfänglicher für das, was um ihn herum geschah, und konnte die Geschehnisse realistisch auslegen. (…) Wie der heilige Josef brauchen wir Mut, um die Wirklichkeit anzunehmen, um aufzustehen und sie in die Hände zu nehmen.3


AUF BEFEHL des Herodes zog eine Rotte von Soldaten vor die Stadt hinaus, denn der König ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte (Mt 2,16). Die Stadt Davids ist erfüllt vom Stöhnen unschuldiger Geschöpfe und vom Schmerz und der Klage ihrer Mütter. Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren nicht mehr (Mt 2,17-18).

Wie kann ein wehrloses Geschöpf so viel Gewalt erwecken? Die Mütter sehen, wie das unschuldige Leben ihrer Kinder beendet wurde, und verstehen nicht, warum; es scheint für dieses Geschehen keine Erklärung zu geben. Es steht für das auf den ersten Blick sinnlose und ungerechte Leiden einiger Kinder, die mit ihrem Leben die Wahrheit bekräftigen, die sie noch nicht kennen. Doch diese Kinder haben ihr Leben für Jesus gegeben.4 Maria stellt sich vielleicht vor, wie diese Mütter, vom Schmerz gebrochen, nicht ausreichend Tränen haben, um so viel Pein zu beweinen. Sie versteht es nicht, aber sie weiß, dass es einen Sinn hat, und beginnt vielleicht zu ahnen, dass Gottes Pläne nur unter großen Opfern zustande kommen.

Die Zunge bleibt stumm angesichts solchen Leids. Maria nimmt es in ihr Herz auf und wird es ihr Leben lang nicht vergessen. Jene Unschuldigen gaben Zeugnis für Christus, „non loquendo sed moriendo“, „nicht mit Worten, sondern durch ihr Sterben“5, wie es im Tagesgebet heißt, als Erstlingsgabe für Gott und das Lamm (Offb 14,4). Vielleicht begegnete Maria im Laufe der Jahre der einen oder anderen dieser Frauen aus Betlehem. Sie dürfte kaum zu trösten gewesen sein, doch sicherlich fand Maria Worte, um ihr Herz aufzuhellen und zu heilen: Das Leben dieser heiligen Unschuldigen Kinder würde sich mit dem ihres Sohnes vereinen.


1 Franziskus, Brief an die Bischöfe am Tag der Unschuldigen Kinder, 28.1.2016.

2 Hl. Josefmaria, Im Zwiegespräch mit dem Herrn, Betrachtung „Der heilige Josef, unser Vater und Herr“, Nr. 3.

3 Franziskus, Brief an die Bischöfe am Tag der Unschuldigen Kinder, 28.1.2016.

4 Vgl. hl. Augustinus, Sermo 373 zur Erscheinung des Herrn.

5 Tagesgebet zum Fest der Unschuldigen Kinder.

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