Betrachtungstext: 33. Woche im Jahreskreis – Montag

Der Schrei des Blinden von Jericho – Das Gebet ist eine Äußerung des Glaubens – In unserem Verlangen nach Gott wachsen

DER BLINDE von Jericho begibt sich tagtäglich an denselben Ort, an dem er sich zum Betteln niederlässt. Jeden Abend kehrt er mit einigen Münzen heim, die ihm Menschen zustecken, die sich von seinem Elend rühren lassen. Niemand kann dazu beitragen, seine Blindheit zu lindern. Eines Tages jedoch kommt, umgeben von einer kleinen Menschenmenge, Jesus an ihm vorbei. Der Blinde fragt die Passanten nach dem Grund für den Aufruhr, und man berichtete ihm: Jesus von Nazaret geht vorüber. Da rief er: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! (Lk 18, 35-39). Diese unerwartete, von Glauben und Hoffnung erfüllte Nachricht öffnete im Nu sein Herz.

Jesus kommt auch an uns vorbei, wenn wir am Wegesrand sitzen im Bewusstsein, dass wir, wie der Blinde, Glauben und Hoffnung brauchen, die nicht allein aus unserer Kraft kommen. „Der Herr sucht uns in jedem Moment“1, sagte der heilige Josefmaria. Der Herr wird in der Arbeit, zu Hause, in den Straßen unserer Stadt gegenwärtig, sooft wir spüren, dass wir das göttliche Mitgefühl benötigen. Christus ist in unseren Mitmenschen an unserer Seite, vor allem in den Kranken, den Alten oder den Schwachen, in denen wir ihn erblicken. Unser Herr kommt uns auch entgegen, indem er sich unserer Schwächen und Fehler bedient.

Der heilige Josefmaria legte uns nahe, uns die Worte des blinden Bettlers zu eigen zu machen. In einem Kommentar zu der Stelle schrieb er: „Da entflammte seine Seele derart im Glauben an Christus, dass er schrie: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner! Empfindest du nicht auch das Bedürfnis zu schreien, du, der du tatenlos am Wegesrand stehst, am Rande dieses Lebenswegs, der so kurz ist; du, dem Licht fehlt; du, der du mehr Gnade benötigst, um entschlossen die Heiligkeit zu suchen? Drängt es dich nicht zu rufen: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner? Da hast du ein herrliches Stoßgebet, damit du es oft wiederholst!“2


NACHDEM DER Blinde zahlreiche Hindernisse überwunden hatte – die Entfernung, den Lärm, die Menschen, die ihn anherrschten, er solle Ruhe geben –, gelang es ihm, sich bei Jesus Gehör zu verschaffen. Es ist vielleicht das erste Mal, dass er Christus begegnet, doch schon bei dieser ersten Begegnung wird er der Barmherzigkeit Gottes das Wunder entreißen und sein Augenlicht wiedererlangen. Er ist ein Beispiel für kühnen Glauben. Nichts hält ihn auf, denn seine Not und sein Wunsch nach Licht sind groß. Die Leute, die vorausgingen, befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich herführen (Lk 18, 39-40). Gerade so wie der Blinde mit seinen inbrünstigen Schreien den Herrn zum Anhalten veranlasste, können wir Jesus mit unserem Gebet „anhalten“. Je bedürftiger wir uns fühlen, desto mehr bestehen wir darauf, denn dann ist der Herr bereits in uns am Werk und wir sind auf dem Weg, das verlorene Licht wiederzuerlangen.

Hören wir, was Papst Franziskus einmal in einem Kommentar zum heutigen Evangelium sagte: „Das Gebet ist der Atem des Glaubens; es ist sein ureigener Ausdruck. Es ist gleichsam ein Schrei, der aus dem Herzen derer hervorgeht, die glauben und auf Gott vertrauen (...). Der Glaube ist ein Schrei; der Unglaube bedeutet, jenen Schrei zu ersticken. Jene Haltung, die die Menschen hatten, den Blinden zum Schweigen zu bringen: Es waren keine gläubigen Menschen. Er dagegen, ja er war gläubig. Jenen Schrei zu ersticken, ist eine Form des ,Gesetzes des Stillschweigens‘. Der Glaube ist Protest gegen einen qualvollen Zustand, dessen Grund wir nicht verstehen; der Unglaube bedeutet, eine Situation zu ertragen, an die wir uns angepasst haben. Der Glaube ist die Hoffnung, gerettet zu sein; der Unglaube bedeutet, sich an das Übel zu gewöhnen, das uns bedrückt, und so weiterzumachen (...). Alles bittet und fleht, dass das Geheimnis der Barmherzigkeit seine endgültige Erfüllung finden möge. Nicht nur die Christen beten: Sie teilen den Schrei des Gebets mit allen Männern und Frauen.“3

Und Gregor der Große erläuterte zu dieser Stelle: „Ist es möglich, dass der, der das Augenlicht geben konnte, nicht wusste, was der Blinde wollte? Nein. Aber er will, dass er ihn darum bittet (...). Deshalb fragt er ihn, damit er ihn bittet; er fragt, um sein Herz zum Gebet zu bewegen.“4


„WAS DER Blinde vom Herrn erbat, ist nicht Gold, sondern Licht“5, betonte derselbe Kirchenlehrer. Herr, ich möchte sehen können, sagte der Blinde. Und Jesus erwiderte ihm: Sei sehend; dein Glaube hat dich gerettet (Lk 18, 41-42). Die Mauern des alten Jericho stürzten einst ein, nachdem die Israeliten die Stadt mit der Bundeslade sieben Mal umrundet, kräftig in die Posaunen geblasen und ein Kriegsgeschrei angestimmt hatten. Dieses Mal, als Jesus die Stadt durchquerte, genügten ein paar glaubenserfüllte Rufe, um das Wunder zu erwirken. Glaube ist, so schrieb der Verfasser des Briefes an die Hebräer,Grundlage dessen, was man erhofft, ein Zutagetreten von Tatsachen, die man nicht sieht (Hebr 11, 1).

Was kann sich ein armer Blinder sehnlicher wünschen, als sein Augenlicht wiederzuerlangen, um nicht mehr auf der Straße betteln zu müssen, endlich das Gesicht seiner Lieben zu sehen, frei in seiner Stadt umherzugehen oder zum Tempel in Jerusalem zu pilgern? Sein Verlangen ist ebenso groß wie seine Kühnheit. Der heilige Johannes vom Kreuz brachte auf verschiedene Weisen zum Ausdruck, dass das, was wir erlangen, proportional ist zu dem, was wir erhoffen.6 Der heilige Johannes Chrysostomus illustriert dies mit zwei passenden Bildern: „So wie diejenigen, die mit kleinen Gläsern kommen, wenig Wasser aus einem Brunnen schöpfen, und diejenigen, die größere Gläser bei sich haben, viel schöpfen (...), und so wie es mit dem Licht geschieht, das seine Helligkeit mehr oder weniger verbreitet, je nachdem, welche Fenster man öffnet, so empfängt die Seele die Gnade nach dem Maß ihrer Absicht.“7

Deshalb, so schrieb der heilige Josefmaria, „ließ der Herr den Blinden, den er vom ersten Augenblick an gehört hatte, in seinem Gebet ausharren. So ist es auch bei dir. Jesus vernimmt den ersten Ruf der Seele, aber er wartet. Er will uns zu der Überzeugung führen, daß wir ihn brauchen; er will, dass wir ihn hartnäckig bitten wie jener Blinde am Wegesrand.“8 Unsere Mutter Maria hat, obwohl sie voller Gnade war, unaufhörlich gebetet und tut dies heute noch. Wir bitten sie, in unserem Gebet die Bedürftigkeit und Sehnsucht nach Gott zu vermehren.


1 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 196.

2 Ebd., Nr. 195.

3 Franziskus, Audienz, 6.5.2020.

4 Gregor der Große, Homiliae in Evangelia 2,5

5 Ebd.

6 Z. B. „Denn Hoffnung vom Himmel erstrebet / ihr Ziel, wie auch hoch sie sich hebet“, Johannes vom Kreuz, Geistesflug zu Gott.

7 Hl. Johannes Chrysostomus, Kommentar zu dieser Stelle des Evangeliums in: Catena aurea.

8 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 195.