BEREITS zu Beginn seines öffentlichen Lebens preist Jesus die Sanftmütigen (lat. mites) selig (vgl. Mt 5,5). Später sagt er von sich selbst: Lernt von mir; denn ich bin sanftmütig (lat. mitis) und von Herzen demütig (Mt 11,29). Sanftmut kennzeichnet das irdische Leben Jesu, in Worten, aber auch in Taten. Gegen jene, die ihn ablehnen und sich gegen ihn verschwören, versucht Jesus nicht, sich machtvoll durchzusetzen. Missverständnisse und Verachtung nimmt er geduldig hin, vor allem am Kreuz. Papst Franziskus betont: „Sanftmut zeigt sich in Konfliktsituationen. Man erkennt sie daran, wie man auf eine feindselige Situation reagiert. Jeder kann sanftmütig erscheinen, wenn alles ruhig ist. Wie aber reagiert er unter Druck, wenn er angegriffen, beleidigt, angefeindet wird?“1 Der heilige Petrus erinnert daran, wie Jesus auf diese feindselige Situation reagierte: Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter (1 Petr 2,23).
Auch wenn wir in unserem Alltag nicht auf solche extreme Feindseligkeit stoßen, kennen wir doch auch schmerzhafte Prüfungen. Besonders in Familie und Beruf ist Sanftmut gefragt. Das bedeutet oft, dass wir einer ersten impulsiven Reaktion, geprägt von Wut oder Empörung, widerstehen müssen, um ruhig und geduldig zu reagieren – so wie der Herr es tun würde und wie wir gerne hätten, dass mit uns umgegangen wird. Der Sanftmütige weiß, dass schwerer wiegt, die Menschen auf christliche Weise zu achten, als das konkrete Ärgernis selbst. Auf diese Weise legt er eine heldenhafte Art der Liebe an den Tag und vermeidet es, den Schaden noch zu vergrößern. Der heilige Josefmaria schlägt einige praktische Übungen vor, um die Sanftmut Christi nachzuahmen: „Die treffende Bemerkung und der Witz, die du dir verkneifst; das freundliche Lächeln für einen, der dich stört; das Schweigen gegenüber ungerechten Vorwürfen; wohlwollendes Verhalten gegenüber zudringlichen Menschen und solchen, die ungelegen kommen; Nachsicht mit den lästigen Angewohnheiten derjenigen, mit denen du täglich zu tun hast und die dir auf die Nerven fallen…, das alles, mit Beharrlichkeit geübt, ist handfeste innere Abtötung.“2
JESAJA hatte die sanftmütige und demütige Art des Herrn bereits vorausgesagt, wie Matthäus berichtet: Er wird nicht streiten und nicht schreien und man wird seine Stimme nicht auf den Straßen hören. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat (Mt 12,19-20). Der Prophet beschreibt das Geheimnis des leidenden Knechtes, das sich in Jesus Christus erfüllt: Jesus richtet sich nicht nach dem, was andere über ihn denken oder sagen. Er sucht weder Beifall noch Anerkennung, sondern handelt im Blick auf den Vater: Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem ich Gefallen gefunden habe (Mt 12,18). Jesus lebte, um seinem Vater zu gefallen. Auch wenn manche seiner Werke unbemerkt blieben, wusste er doch, dass sein Vater sie gesehen hat und zufrieden war.
Unsere Gotteskindschaft lässt uns spüren, dass Gott uns in unseren kleinen, verborgenen, täglichen Kämpfen sieht, die vielleicht menschlichen Augen verborgen bleiben. Wenn wir ihm unser Tun darbringen, „hört Gott schon, hilft er schon“, wie der heilige Josefmaria sagte. „Wir erlangen den Stil einer kontemplativen Seele, mitten in der täglichen Arbeit! Denn uns erfüllt die Gewissheit, dass er uns anschaut, während er uns um eine neue Überwindung, ein kleines Opfer bittet: vielleicht jemanden anzulächeln, der ungelegen kommt, eine unangenehme, aber dringendere Aufgabe in Angriff zu nehmen, auf Ordnung zu achten, beharrlich eine kleine Pflicht zu erfüllen, auch wenn man sie leicht vernachlässigen könnte, oder eine Arbeit von heute nicht auf morgen zu verschieben… Alles, um Gott, unseren Vater, zu erfreuen!“3
So verstanden ist das Leben eines Christen das Leben eines Liebenden. Die Liebe zu einem Menschen zeigt sich in vielen kleinen Dingen, die ihm das Leben angenehmer machen sollen. Manchmal wird diese Liebe erkannt und geschätzt, manchmal nicht. Es ist natürlich, ein gewisses Maß an Anerkennung zu erwarten, aber was uns wirklich motiviert, ist das Glück des geliebten Menschen. Genauso basiert eine gesunde Beziehung zu Gott nicht auf dem Wunsch, durch die Einhaltung von ein paar Regeln einer Strafe zu entgehen oder eine Belohnung zu erhalten, sondern auf dem Wunsch, ihm zu gefallen. Gleichzeitig lädt er uns ein, seine ständige Fürsorge für uns zu entdecken; das ist sogar das Erste, was er von uns erwartet: dass wir uns von ihm lieben lassen.
DER WUNSCH, Gott zu gefallen, kann von der Furcht begleitet sein, ihn zu kränken. Das beweist, dass Liebe vorhanden ist – denn nur wer liebt, fürchtet, den Geliebten zu enttäuschen. Doch bietet dieses Gefühl keine Grundlage für ein erfülltes Leben. Vielleicht finden wir deshalb, wie Papst Franziskus sagte, „in der Heiligen Schrift 365 Mal den Ausdruck ,Fürchte dich nicht‘ – mit all seinen Varianten –, so als ob sie uns damit sagen wollte, dass der Herr uns für jeden Tag des Jahres die Freiheit von unseren Ängsten wünscht.“4 Der Prälat des Opus Dei wies darauf hin, dass man das Ideal eines christlichen Lebens nicht mit Perfektionismus verwechseln darf. Stattdessen sollen wir „lehren, mit der eigenen Schwäche wie auch mit der der anderen zu leben; tagtäglich bis zur letzten Konsequenz eine Haltung der vertrauensvollen Hingabe einzunehmen, die sich auf die Gotteskindschaft gründet.“5 Ein heiliger Mensch fürchtet, Gott zu beleidigen und seine Liebe nicht zu erwidern. Ein Perfektionist hingegen fürchtet, dass er oder sie die Dinge nicht gut genug macht und Gott daher zornig sein könnte. Heiligkeit und Perfektionismus sind nicht dasselbe, obwohl sie oft verwechselt werden.
Es kann uns auch traurig machen, wenn wir sehen, dass wir uns wieder von unseren Leidenschaften haben leiten lassen, dass wir erneut gesündigt haben, dass wir zu schwach sind, um die einfachsten Ziele zu erreichen. Wir werden von Traurigkeit überwältigt. In solchen Momenten ist es gut, sich daran zu erinnern, dass die Traurigkeit der Verbündete des Feindes ist: Sie bringt uns dem Herrn nicht näher, sondern entfernt uns von ihm. Wir verwechseln unsere Wut und unsere Wutanfälle mit einer vermeintlichen Enttäuschung Gottes. Doch der Ursprung von all dem ist nicht unsere Liebe zu ihm, sondern unser verwundetes Selbst, unsere nicht akzeptierte Hinfälligkeit.
Angesichts einer möglichen Furcht, Jesus zu missfallen, können wir uns fragen: Verbindet mich diese Furcht mit Gott, bringt sie mich dazu, mehr an ihn zu denken, oder konzentriert sie mich auf mich selbst: auf meine Erwartungen, auf meinen Kampf, auf meine Leistungen? Führt sie mich dazu, Gott in der Beichte um Vergebung zu bitten und mich mit Freude zu erfüllen, weil ich weiß, dass er mir vergibt, oder führt sie mich in die Verzweiflung? Wenn wir eine solche Traurigkeit spüren, wenden wir uns an die Jungfrau Maria, um immer wieder mit Freude neu zu beginnen, weil wir wissen, dass ihr Sohn jedes Mal, wenn wir uns von einem neuen Sturz erheben, gerührt ist.
1 Franziskus, Audienz, 19.2.2020.
2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 173.
3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 67.
4 Franziskus, Botschaft, 25.3.2018.
5 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 14.2.2017, Nr. 8.