Betrachtungstext: 12. Woche im Jahreskreis (2) - Montag

Andere nicht verurteilen. - Im Mittelpunkt steht die Person. - Gott lieben bedeutet die anderen zu lieben.

«RICHTET NICHT, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden» (Mt 7,1). Es sind Worte Jesu, mit denen er uns vor der Versuchung warnt, uns den anderen gegenüber wie Götter zu verhalten, welche Macht haben, ihr Verhalten zu beurteilen, ja sogar zu verleumden. Wenn der Herr dazu gekommen ist, unser Herz zu erneuern, dann ist der Blick, mit dem wir andere einschätzen, ein bevorzugtes Feld für die Bekehrung. Jesus empfiehlt, den Blick auf uns selbst zu richten, ehe wir Überlegungen über andere anstellen.

Der heilige Thomas von Aquin erläutert, dass solche Beurteilungen gewöhnlich aus einem Herzen kommen, das andere in vermessener Weise verdächtigt. Er nennt drei Motive, die zu solchen Urteilen führen können: weil das Herz von Schlechtigkeit überflutet ist, und deshalb leicht schlecht über andere denkt; weil man keine geläuterte Zuneigung zu einer konkreten Person hat, wodurch man leicht dazu neigt, bei jedem kleinsten Anlass schlecht über sie zu denken; oder weil einige negative Erfahrungen dazu geführt haben, sie mit allzu großer Empfindlichkeit zu betrachten1. In keinem dieser Fälle liegt eine großzügige Haltung gegenüber dem Nächsten vor, weshalb sie weder zur Quelle für das eigene noch für das Glück des anderen werden kann.

Jede menschliche Sicht über andere wird immer begrenzt sein: nur Gott kennt die Herzen und kann die wirklichen Umstände von Vorkommnissen bewerten. Er ist immer verständnisvoll und stets bereit zu verzeihen. «Wer aber bist du, dass du über deinen Nächsten richtest? » (Jak 4,12), schreibt der Apostel Jakobus an die ersten Christengemeinden. Wenn wir uns von einer solchen Haltung treiben lassen, klagen wir an statt zu verteidigen. Wenn wir aber danach trachten, ein mit dem Herzen Jesu in Gleichklang stehendes Herz zu haben, dann werden wir Tugenden und Unvollkommenheiten anderer mit der gleichen Liebe und demselben Erbarmen betrachten, so wie Er uns liebt.

«WARUM SIEHST du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? » (Mt 7,3). Wenn wir die Erfahrung unserer eigenen Irrtümer im Angesicht Gottes erwägen, so soll uns das zu Verständnis für die anderen führen. Es geht dabei nicht bloß um ein Übersehen ihrer Fehler. Es ist vielmehr so, dass wir gelegentlich durch die brüderliche Zurechtweisung unsere Hilfe zur Änderung oder Besserung anbieten können. Eine derartige Änderung kann man aber einerseits nicht von einem Tag auf den anderen erreichen, und andererseits kann es oft an seiner eigenen Lebensart liegen, die aber für seinen Weg der Heiligkeit kein relevantes Hindernis darstellt. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass auch wir Fehler oder persönliche Eigenheiten haben, die nicht jedem gefallen, dann bringt uns das dazu, die Mitmenschen verständnisvoller zu betrachten. «Die Liebe besteht mehr im “Verstehen” als im “Geben” –schreibt der heilige Josefmaria–. Deshalb suche immer nach einer Entschuldigung für deinen Nächsten, wenn du die Pflicht hast zu urteilen. Es gibt immer eine Entschuldigung»2.

«Denn wenn wir es nicht fertigbringen, unsere Fehler zu sehen, werden wir immer dazu neigen, die Fehler der anderen aufzubauschen. Wenn wir hingegen unsere Fehler und unsere Schwächen erkennen, öffnet sich uns die Tür der Barmherzigkeit»3. Der Blick Gottes richtet sich nicht nur auf unsere Fehler, sondern auf alles, woraus wir Wünsche zum Gutes-Tun ziehen können: Er hat immer die Rettung des Menschen im Auge, vor allem dann, wenn wir zu seinen Söhnen zählen. Im Gebet können wir diese Sichtweise entwickeln. «Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund» (Lk 6, 45). Wenn wir ein reines Herz wachsen lassen, ohne Falsch und frei von Verleumdung, dann werden wir das Gute an den anderen zu entdecken wissen und dem Schlechten keine überzogene Bedeutung beimessen. Der heilige Josefmaria schrieb bei einer Gelegenheit seine Vorschläge dazu nieder: «1/ Bevor du eine Konversation beginnst oder einen Besuch machst, erhebe dein Herz zu Gott. 2/ Ich werde nicht hartnäckig auf etwas bestehen, auch dann nicht, wenn ich im Recht bin. Nur wenn es der Ehre Gottes dient, werde ich meine Meinung sagen, aber ohne zu verletzen. 3/ Ich werde keine negative Kritik äußern: wenn ich nicht loben kann, dann werde ich schweigen»4.

DAS LEBEN des Christen nährt sich und findet seine Erfüllung in der persönlichen Beziehung zu Gott und den anderen. Das Substantielle an diesem Umgang ist die Liebe: durch sie entsteht Freundschaft, Familienleben, soziale Strukturen und alle Arten von Beziehung. «Für die Kirche ist – vom Evangelium her – die Liebe alles, denn, wie uns der heilige Johannes lehrt (vgl. 1 Joh 4, 8.16) (...): Aus der Liebe Gottes geht alles hervor, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu.Die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheißung und unsere Hoffnung»5.

Kurz vor seinem Leiden wollte uns Jesus ein neues Gebot hinterlassen: «Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben» (Joh 13,34). Und damit wir ein Bild von diesem Weg zum Glück bekommen, hat er es gleich danach durch sein Tun gezeigt, indem er den Jüngern die Füße gewaschen hat. «Wir wissen nur allzu gut, dass Gott zu finden und Gott zu lieben unmittelbar zur Liebe und zum Dienst an den anderen führt. Beide Gebote der Liebe sind nicht voneinander zu trennen»6.

Uns Christen sind so viele Heilige vorausgegangen, die sich auch im gewöhnlichen Leben in Liebe hingegeben haben: das sehen wir an«den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, an den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln»7. Die Werke der geistigen Barmherzigkeit bringen eine Haltung mit sich, die sich der Neigung zu verurteilen entgegenstellen: lehren, raten, korrigieren, verzeihen, trösten… Die heilige Maria ist die erste, die uns auf diese Weise begegnet und, als gute Mutter, kann sie uns helfen, die uns am nächsten stehenden Menschen auf gleiche Weise zu lieben.


1 Vgl. hl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 60, a. 3. co.: Et contingit ex tribus. Uno quidem modo, ex hoc quod aliquis in seipso malus est, et ex hoc ipso, quasi conscius suae malitiae, faciliter de aliis malum opinatur, secundum illud Eccle. X, in via stultus ambulans, cum ipse sit insipiens, omnes stultos aestimat. Alio modo provenit ex hoc quod aliquis male afficitur ad alterum. Cum enim aliquis contemnit vel odit aliquem, aut irascitur vel invidet ei, ex levibus signis opinatur mala de ipso, quia unusquisque faciliter credit quod appetit. Tertio modo provenit ex longa experientia, unde philosophus dicit, in II Rhet., quod senes sunt maxime suspiciosi, quia multoties experti sunt aliorum defectus.

2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 463.

3 Papst Franziskus, Generalaudienz, 27-II-2022.

4 Hl. Josefmaria, Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 399, 18-XI-1931.

5 Papst Benedikt XVI, Caritas in veritate, Nr. 2.

6 Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 19-III-22, Nr. 9.

7 Papst Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 7.