26. Freiheit, Gesetz und Gewissen

Gott hat die Freiheit gewollt, damit der Mensch ohne Zwang seinen Schöpfer und Erlöser sucht.

1. Die Freiheit der Kinder Gottes

Die Freiheit des Menschen hat mehrere Dimensionen. Freiheit von Zwang liegt vor, wenn eine Person nach außen tun kann, was sie zu tun beschlossen hat, ohne dass äußere Akteure ihr etwas aufnötigen oder sie behindern. So spricht man von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. Mit Wahlfreiheit oder psychologischer Freiheit bezeichnet man das Fehlen von innerem Druck, eine bestimmte Handlung zu wählen. Sie meint nicht die Möglichkeit des Handelns, sondern des Entscheidens, also das Freisein von innerer Nötigung. Im moralischen Sinn schließlich bedeutet Freiheit die Fähigkeit, das Gute – das der Gegenstand des freien Willens ist – zu bejahen und zu lieben, ohne durch ungeordnete Leidenschaften oder die Sünde daran gehindert zu werden.

Gott hat die Freiheit des Menschen gewollt, damit dieser „seinen Schöpfer aus eigenem Entscheid suche und frei zur vollen und seligen Vollendung in Einheit mit Gott gelange. Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder unter bloßem äußeren Zwang. Eine solche Würde erwirbt der Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften befreit und sein Ziel in freier Wahl des Guten verfolgt sowie sich die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in angestreng­tem Bemühen verschafft“ [1].

Die Freiheit von äußerem Zwang, von innerer Nötigung und von den ungeordneten Leidenschaften – mit einem Wort, die volle menschliche Freiheit – ist äußerst wertvoll, denn nur sie ermöglicht die Liebe (die freie Bejahung) des Guten als solchen, und damit die Liebe zu Gott als dem höchsten Gut. In diesem Akt ahmt der Mensch die göttliche Liebe nach und erreicht das Ziel, für das er geschaffen wurde. Deshalb sagt man, dass „die wahre Freiheit ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen“ ist [2].

Die Heilige Schrift betrachtet die menschliche Freiheit aus der Perspektive der Heilsgeschichte. Als Folge des Sündenfalls der Stammeltern wurde die Freiheit, die der Mensch von Gott empfangen hatte, zwar der Sklaverei der Sünde unterworfen, aber nicht vollständig zerstört (vgl. KKK, 1739-1740). Durch sein glorreiches Kreuz, das in der Heilsökonomie des Alten Bundes angekündigt und vorbereitet worden war, „hat Christus allen Menschen das Heil erworben. Er hat sie von der Sünde befreit, die sie gefangen hielt“ (KKK, 1741). Nur durch sein Mitwirken mit der Gnade, die Gott durch Christus schenkt, kann der Mensch zur vollen Freiheit im moralischen Sinn gelangen: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1; vgl. KKK, 1742).

Die Möglichkeit, dass der Mensch sündigt, hat Gott nicht davon abgehalten, ihn als freies Wesen zu erschaffen. Menschliche Autorität muss die Freiheit respektieren und darf ihr keine anderen Grenzen setzen, als durch gerechte Gesetze gefordert ist. Gleichzeitig darf aber nicht vergessen werden, dass Entscheidungen nicht einfach deshalb gut sind, weil sie frei getroffen wurden; und dass man nur im Licht des großen Wertes der freien Bejahung des Guten durch den Menschen die ethische Forderung versteht, auch seine fehlbare Freiheit zu achten.

2. Das natürliche Sittengesetz

Der Begriff „Gesetz“ ist ein analoger. Das natürliche Sittengesetz, das Neue Gesetz oder Gesetz Christi, die menschlichen Gesetze des Staates und der Kirche sind moralische Gesetze in sehr verschiedenem Sinn, auch wenn allen etwas gemeinsam ist.

Man nennt den Plan der göttlichen Weisheit, nach dem die ganze Schöpfung zu ihrem Ziel geführt wird, das Ewige Gesetz [3]. Insoweit es das Menschengeschlecht betrifft, besteht es im ewigen Heilsratschluss Gottes, der uns in Christus erwählt hat, „damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; er hat uns aus Liebe im Voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus“ (Eph 1,4-5).

Gott führt jedes Geschöpf seiner Natur entsprechend zu seinem Ziel. Konkret heißt das: „Gott sorgt für die Menschen anders als für die Wesen, die keine Personen sind: nicht ‚von außen’, durch die Gesetze der physischen Natur, sondern ‚von innen’, durch die Vernunft, die, wenn sie mit Hilfe des natürlichen Lichtes das ewige Gesetz Gottes erkennt, dadurch imstande ist, dem Menschen die rechte Richtung seines freien Handelns zu weisen“ [4].

Das natürliche Sittengesetz ist eine Teilhabe am Ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf [5]. Es „ist das ewige Gesetz selbst, das den vernunftbegabten Wesen eingepflanzt ist und sie auf das gebührende Tun und Ziel hinlenkt“ [6]. Es ist daher ein göttliches Gesetz (das natürliche göttliche Gesetz). Es besteht im Licht der Vernunft selbst, das dem Menschen erlaubt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und es besitzt Gesetzeskraft, insofern es Stimme und Interpret der allerhöchsten Vernunft Gottes ist, an der unser Geist Anteil hat und der sich unsere Freiheit unterwirft [7]. Man nennt es natürlich, weil es im Licht der Vernunft besteht, das jeder Mensch von Natur aus besitzt.

Das natürliche Sittengesetz ist der erste Schritt der Mitteilung des göttlichen Heilsratschlusses an das Menschengeschlecht, dessen vollständige Kenntnis nur durch die Offenbarung möglich ist. „Angelpunkt des Sittengesetzes ist das Verlangen nach Gott und die Unter-ordnung unter ihn, den Quell und Richter alles Guten, sowie der Sinn für den Mitmenschen als ein ebenbürtiges Wesen“ (KKK, 1955).

- Eigenschaften: Das natürliche Sittengesetz ist allgemeingültig, weil es für jede menschliche Person aller Zeiten gilt (vgl. KKK, 1956). Es „ist unveränderlich und überdauert die geschichtlichen Veränderungen; in der Flut der Vorstellungen und der Sitten bleibt es bestehen und unterstützt ihren Fortschritt. Die Regeln, die es wiedergeben, bleiben dem Wesen nach gültig“ (KKK, 1958) [8]; es ist verpflichtend, denn in seinem Streben nach Gott „muss der Mensch in freier Entscheidung das Gute tun und das Böse meiden. Aber dazu muss der Mensch das Gute vom Bösen unterscheiden können, vor allem dank des Lichtes der natürlichen Vernunft“ [9]. Die Befolgung des natürlichen Sittengesetzes kann in bestimmten Situationen schwer sein, sie ist jedoch niemals unmöglich [10].

- Kenntnis des natürlichen Sittengesetzes: Die Gebote dieses Gesetzes können mittels der Vernunft von allen erkannt werden. Trotzdem „werden sie nicht von allen Menschen klar und unmittelbar wahr­genommen“ (KKK, 1960). Ihre tatsächliche Kenntnis ist oft abhängig von der persönlichen Einstellung des Einzelnen, vom gesellschaftlichen Umfeld, von Erziehung und Bildung usw. Da in unserer gegenwärtigen Lage die Folgen der Sünde nicht vollständig getilgt sind, braucht der Mensch Gnade und Offenbarung, damit die sittlichen Wahrheiten „von allen ohne Schwierigkeit, mit sicherer Gewissheit und ohne Beimischung eines Irrtums erkannt werden“ [11].

3. Das positive göttliche Gesetz

Das Alte Gesetz, das Gott dem Mose geoffenbart hat, „ist die erste Stufe des geoffenbarten Gesetzes. Seine sittlichen Vorschriften sind in den zehn Geboten zusammengefasst“ (KKK, 1962), die unmittelbare Schlussfolgerungen aus dem natürliche Sittengesetz zum Ausdruck bringen. Die Heilsökonomie des Alten Testamentes zielt vor allem darauf ab, das Kommen des Erlösers vorzubereiten, anzukündigen und im Voraus anzudeuten [12].

Das Neue Gesetz, Gesetz des Evangeliums oder Gesetz Christi, „ist die durch den Glauben an Christus gewährte Gnade des Heiligen Geistes. Die äußeren Vorschriften, von denen das Evangelium auch redet, bereiten auf diese Gnade vor oder bringen deren Wirkungen im Leben zum Tragen“ [13].

Hauptelement des Gesetzes Christi ist die Gnade des Heiligen Geistes, die den ganzen Menschen heilt und sich im Glauben kundtut, der in der Liebe tätig ist [14]. Es ist in erster Linie ein inwendiges Gesetz, das die innere Kraft zum Vollbringen dessen, was es lehrt, verleiht. In zweiter Linie ist es auch ein geschriebenes Gesetz, das sich in den Lehren des Herrn findet (in der Bergpredigt, den Selig­preisungen usw.) sowie in den sittlichen Weisungen der Apostel, die im Liebesgebot zusammengefasst werden können. Dieses zweite Element ist nicht von untergeordneter Bedeutung, denn die Gnade des Heiligen Geistes, die dem Herzen des Gläubigen eingegossen wird, führt ihn notwendigerweise zu einem „Leben nach dem Geist“ und findet ihren Ausdruck in den „Früchten des Geistes“, die den „Werken des Fleisches“ entgegengesetzt sind (vgl. Gal 5,16-26).

Die Kirche mit ihrem Lehramt ist der authentische Interpret des natürlichen Sittengesetzes (vgl. KKK, 2036). Diese ihre Sendung ist nicht auf die Gläubigen begrenzt, sondern umfasst kraft des Gebotes Christi – euntes, docete omnes gentes (Mt 28,19) – alle Menschen. Daraus folgt, dass den Christen die Verantwortung auferlegt ist, die Menschen das natürliche Sittengesetz zu lehren, da sie es durch den Glauben und mit der Hilfe des Lehramts leicht und irrtumsfrei erkennen.

4. Die staatlichen Gesetze

Staatliche Gesetze sind die von der staatlichen Autorität (in der Regel von der gesetzgebenden Körperschaft) erlassenen normativen Weisungen, die den Zweck haben, jene Forderungen des natürlichen Sittengesetzes zu promulgieren, zu erläutern oder zu konkretisieren, die notwendig sind, um das Leben der Bürger in einer politisch organisierten Gesellschaft zu ermöglichen und zweckdienlich zu regeln [15]. Sie sollen hauptsächlich den Frieden und die Sicherheit sowie die Freiheit, die Gerechtigkeit, den Schutz der Grundrechte der Person und die öffentliche Moral gewährleisten [16].

Zur Tugend der Gerechtigkeit gehört die moralische Verpflichtung, die gerechten staatlichen Gesetze zu befolgen. Die Schwere dieser Verpflichtung hängt davon ab, wie wichtig der jeweilige Gesetzesinhalt für das Gemeinwohl der Gesellschaft ist.

Ungerecht sind Gesetze, die dem natürlichen Sittengesetz und dem Gemeinwohl der Gesellschaft widersprechen. Das sind konkret:

1) Gesetze, die etwas verbieten, was für die Bürger moralisch verpflichtend ist, oder die etwas befehlen, das man nicht tun kann, ohne moralische Schuld auf sich zu laden;

2) Gesetze, die Güter, die zum Gemeinwohl gehören, positiv schädigen oder des geschuldeten Schutzes berauben: das Leben, die Gerechtigkeit, die Grundrechte der Person, die Ehe oder die Familie, usw.;

3) Gesetze, die nicht rechtmäßig promulgiert wurden;

4) Gesetze, die nicht auf angemessene Weise Lasten und Vorteile unter den Staatsbürgern verteilen.

Ungerechte staatliche Gesetze verpflichten nicht im Gewissen. Es besteht im Gegenteil die moralische Pflicht, ihre Anordnungen nicht zu befolgen, vor allem wenn sie aus den unter 1) und 2) genannten Gründen ungerecht sind, ferner das eigene Nicht-Einverständnis kundzutun und zu versuchen, sie nach Möglichkeit zu ändern oder wenigstens ihre negativen Wirkungen zu mindern. In manchen Fällen wird man aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigern müssen (vgl. KKK, 2242-2243) [17].

5. Die kirchlichen Gesetze und die Gebote der Kirche

Um die Menschen zu erlösen, hat Gott auch gewollt, dass sie eine Gesellschaft bilden [18]: die Kir­che, die von Jesus Christus gegründet und von ihm mit allen Mitteln zur Erreichung ihres übernatürlichen Zieles, nämlich der Rettung der Seelen, ausgestattet wurde. Zu diesen Mitteln zählt die Gesetzgebungsgewalt, die dem Papst für die ganze Kirche und den Diözesanbischöfen – sowie den ihnen gleichgestellten Hirten – für ihre jeweilige Zirkumskription zusteht. Der Großteil der Gesetze, die für die Gesamtkirche gelten, ist im Codex des Kanonischen Rechtes enthalten. Es gibt einen Codex für die Gläubigen des lateinischen Ritus und einen für die Gläubigen der orientalischen Riten.

Die kirchlichen Gesetze begründen eine wirkliche sittliche Verpflichtung [19], die je nach Materie schwer oder leicht sein kann.

Die allgemeinsten Kirchengebote sind fünf: 1. an Sonn- und gebotenen Feiertagen der heiligen Messe andächtig beiwohnen (vgl. KKK, 2042); 2. die Todsünden wenigstens einmal im Jahr beichten, desgleichen in Todesgefahr und wenn man kommunizieren muss (vgl. KKK, 2042); 3. wenigstens einmal im Jahr, und zwar zur österlichen Zeit, die heilige Kommunion empfangen (vgl. KKK, 2042); 4. die gebotenen Fasttage halten (Enthaltungs- und Abbruchfasten), wie die Kirche anordnet (vgl. KKK, 2043); 5. zu den materiellen Bedürfnissen der Kirche beitragen (vgl. KKK, 2043).

6. Freiheit und Gesetz

Moralfragen werden manchmal so behandelt, als wären die ethischen Forderungen des Sittengesetzes etwas der Freiheit Äußerliches. Frei­heit und Gesetz stehen dann gewissermaßen im Gegensatz zueinander, als würden sie sich wechselseitig begrenzen: die Freiheit beginnt dort, wo das Gesetz aufhört, und umgekehrt.

In Wirklichkeit entspringt das freie Handeln nicht dem Instinkt bzw. einer physischen oder biologi­schen Notwendigkeit, sondern jeder Mensch entscheidet gemäß seiner Erkenntnis von Gut und Böse. Er tut in Freiheit das Gute, das im Sittengesetz vorgegeben ist, und meidet in Freiheit das Böse, das er durch dieses Gesetz erkennt.

Die Weigerung, das durch das Sittengesetz erkannte Gute zu tun, ist nicht Freiheit, sondern Sünde. Die Sünde steht dem Sittengesetz entgegen, nicht die Freiheit. Gewiss weist uns das Gesetz darauf hin, dass das Verlangen nach einem sündhaften Verhalten, das man vielleicht verspürt – etwa nach Rache, Gewalt, Diebstahl usw. –, korrigiert werden muss. Diese sittliche Mahnung steht aber nicht im Widerspruch zur Freiheit, die immer auf die freie Bejahung des Guten durch die Person ausgerichtet ist, und sie bedeutet auch keine Nötigung, da die traurige Möglichkeit zu sündigen weiter besteht. „Schlechtes Handeln befreit nicht, sondern versklavt ... [Wer sündigt,] wird vielleicht sagen können, er sei seinen Neigungen gefolgt, doch von wahrer Freiheit kann nicht die Rede sein. Denn er ist zum Sklaven seiner Entscheidung geworden, der schlimmsten aller Entscheidungen: sich von Gott zu entfernen; doch das ist keine Freiheit“ [20].

Ein anderes Problem ist, dass die menschlichen Gesetze und Regeln aufgrund der Allgemeinheit und Präzision ihrer Formulierung in dem einen oder anderen konkreten Fall kein getreuer Ausdruck dessen sein können, was ein Mensch tun soll. Eine gut gebildete Person weiß in solchen konkreten Fällen, dass sie tun muss, was sie mit Sicherheit als das Gute erkennt [21]. Es gibt jedoch keine Situation, in der es gut wäre, Taten zu setzen, die in sich böse und daher durch Verbote des natürlichen Sittengesetzes oder des positiven göttlichen Gesetzes verboten sind (Ehebruch, vorsätzlicher Mord usw.) [22].

7. Das Gewissen

„Das Gewissen ist ein Urteil der Vernunft, in welchem der Mensch erkennt, ob eine kon-krete Hand­lung, die er beabsichtigt, gerade ausführt oder schon getan hat, sittlich gut oder schlecht ist“ (KKK, 1778). „Das Gewissen drückt also die sittliche Verpflichtung im Lichte des Naturgesetzes aus: Es ist die Verpflichtung, das zu tun, was der Mensch durch seinen Gewissensakt als ein Gutes erkennt, das ihm hier und jetzt aufgegeben ist“ [23].

Das Gewissen ist die nächste Norm der Sittlichkeit jedes Menschen: „norma proxima moralitatis cuiusque hominis“ [24]. Wer daher gegen sein Gewissen handelt, handelt unsittlich. Diese Funktion, unmittelbare Norm der Sittlichkeit zu sein, kommt dem Gewissen nicht deswegen zu, weil es die höchste Norm wäre [25], sondern weil es für die Person die unausweichlich letzte Instanz darstellt: „Das Urteil des Gewissens bestätigt »abschließend« die Übereinstimmung eines bestimmten konkreten Verhaltens mit dem Gesetz“ [26]: Wenn ein Mensch, nachdem er das Problem mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln geprüft hat, mit Sicherheit urteilt, gibt es keine höhere Instanz, kein Gewissen des Gewissens, kein Urteil über das Urteil; andernfalls käme es zu einem unendlichen Regress.

Man nennt rechtes oderwahres Gewissen jenes, das über die moralische Qualität einer Handlung wahrheitsgemäß urteilt; und irriges Gewissen jenes, das nicht wahrheitsgemäß urteilt, sondern eine Handlung für gut hält, die in Wirklichkeit böse ist, oder umgekehrt. Ursache eines solchen Gewissensirrtums ist die Unwissenheit. Diese ist entweder unüberwindlich (und unverschuldet), wenn sie die Person so stark beherrscht, dass diese keinerlei Möglichkeit hat, sie als solche zu erkennen und zu beseitigen; oder sie ist überwindlich (und schuldhaft), weil sie an sich erkannt und überwunden werden könnte, was aber nicht geschieht, weil die Person nicht die Mittel zu ihrer Aufklärung einsetzen will [27]. Ein schuldhaft irriges Gewissen befreit nicht von Sünde, es kann sogar deren Schwere erhöhen.

Ein sicheres Gewissen liegt vor, wenn das Urteil mit der moralischen Gewissheit, sich nicht zu irren, gefällt wird. Man spricht vom wahrscheinlichen Gewissen, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Irrtums besteht, die aber geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, recht zu urteilen. Von zweifelndem Gewissen ist die Rede, wenn die Wahrscheinlichkeit zu irren genauso groß oder größer ist als die Wahrscheinlichkeit recht zu urteilen. Schließlich spricht man von einem perplexen Gewissen, wenn jemand nicht zu urteilen wagt, weil er denkt, dass sowohl zu handeln wie nicht zu handeln Sünde wäre.

Praktisch darf man nur einem sicheren und wahren Gewissen bzw. demsicheren unüberwindlich irrigen Gewissen folgen [28]. Im Gewissenszweifel darf man nicht handeln. Man muss vielmehr zuvor den Zweifel durch Gebet, Studium, Rat usw. klären.

8. Die Gewissensbildung

Unsittliche Handlungen, die auf unüberwindlicher Unwissenheit beruhen, sind für den, der sie begeht, und möglicherweise auch für andere schädlich; auf jeden Fall können sie zu einer größeren Verdunkelung des Gewissens beitragen. Daher die gebieterische Notwendigkeit der Gewissensbildung (vgl. KKK, 1783).

Um ein rechtes Gewissen zu bilden, ist es erforderlich, den Verstand in der Kenntnis der Wahrheit zu unterrichten ‒ hierfür steht dem Christen die Hilfe des Lehramts der Kirche zur Verfügung ‒ und den Willen und die Affekte durch Übung der Tugenden zu erziehen [29]. „Die Erziehung des Gewissens ist eine lebenslange Aufgabe“ (KKK, 1784).

Um das Gewissen zu bilden, ist die Demut besonders wichtig, die man erlangt, wenn man Gott gegenüber aufrichtig ist; und ebenso die geistliche Leitung [30].

Ángel Rodríguez Luño

Grundlegende Literatur

Katechismus der Katholischen Kirche [KKK], 1730-1742, 1776-1794 und 1950-1974.

Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 6.8.1993, 28-64.

Empfohlene Literatur

Hl. Josefmaria, Homilie Das Gottesgeschenk unserer Freiheit, in Freunde Gottes, 23-38.

J. Ratzinger, Gewissen und Wahrheit, in M. Kessler (Hrsg.), Fides quaerens intellectum: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Francke, Tübingen 1992, S. 293-309.

E. Colom, A. Rodríguez Luño, Elegidos en Cristo para ser santos. Curso de teología moral fundamental, Palabra, Madrid 2000, S. 269-289, 316-332, 348-363, 399-409 und 430-434.


1II. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 17. Vgl. KKK, 1731.

2Ebd.

3Vgl. hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 93, a. 1 c.; II. Vat. Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 3.

4Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 43.

5Vgl. hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 91, a.2.

6Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 44.

7Vgl. ebd.

8„Die Anwendung des natürlichen Sittengesetzes ist vielfältig; sie kann ein Nachdenken erfordern, das die je nach Ort, Zeit und Umständen vielfach verschiedenen Lebensbedingungen berücksichtigt. Dennoch bleibt in der Mannigfaltigkeit der Kulturen das natürliche Gesetz eine Regel, welche die Menschen untereinander verbindet und ihnen über die unvermeidlichen Unterschiede hinaus gemeinsame Grundsätze auferlegt“ (KKK, 1957).

9Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 42.

10Vgl. ebd., 102.

11Pius XII., Enz. Humani generis: DS 3876; vgl. KKK, 1960.

12Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, 15.

13Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 24. Vgl. hl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 106, a. 1 c. und ad 2.

14Vgl. hl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 108, a. 1.

15Vgl. hl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 95, a. 1; KKK, 1959.

16Vgl. Johannes Paul II., Enz. Evangelium vitae, 25.3.1995, 71.

17Ebd., 72-74.

18Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, 9.

19 Vgl. Konzil von Trient, Canones über das Sakrament der Taufe, 8: DS 1621.

20Hl. Josefmaria, Homilie Das Gottesgeschenk unserer Freiheit, in Freunde Gottes, 37

21Vgl. hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 96, a. 6; II-II, q. 120.

22Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 76, 80, 81,82.

23Ebd., 59.

24Ebd., 60.

25Vgl. ebd..

26Ebd., 59.

27Vgl. ebd., 62; II. Vat. Konzil, Konst. Gaudium et spes, 16.

28Das sichere, aber unüberwindlich irrige Gewissen ist kein absolutes moralisches Richtmaß. Es verpflichtet nur, solange der Irrtum andauert. Und es verpflichtet nicht aus sich selbst. Seine Autorität kommt aus der Wahrheit, so dass das irrige Gewissen nur insofern verpflichtet, als man es subjektiv und unüberwindlich für wahr hält. In sehr wichtigen Angelegenheiten (z.B. vorsätzlicher Mord usw.) wird es schwerlich einen unüberwindlichen Gewissensirrtum geben.

29Vgl. Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 64.

30„Eine geistliche Leitung darf nicht darauf hinauslaufen, Menschen ohne eigenes Urteilsvermögen heranzubil­den, die sich darauf beschränken auszuführen, was andere ihnen sagen. Im Gegenteil: der Sinn der geistlichen Leitung besteht gerade darin, die eigene Urteilsfähigkeit zu stärken; und ein eigenes, unabhängi­ges Urteil setzt charakterliche Reife, ausreichende Kenntnis der christlichen Lehre, Feinfühligkeit und Wil­lensstärke voraus“ (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 93).