Kontemplativ inmitten der Welt

Martin Rhonheimer erklärt die Ekklesiologie und Spiritualität des Opus Dei. Eine Rezension von Andreas Püttmann (Die Tagespost).

In der Wallfahrtskirche bei Pereto am Rande der Abruzzen befindet sich ein großes Fresko des Jüngsten Gerichts vom Ende des 15. Jahrhunderts. Auf der einen Seite sieht man das Paradies - ausschließlich von Klerikern, Nonnen und sonstigen Ordensleuten bevölkert - , auf der anderen im Fegfeuer Vertreter aller damaligen Berufssparten, gewöhnliche Christen. Sinnbild für einen Glaubensirrtum, gegen den der Priester und Moralphilosoph Martin Rhonheimer mit seinem neuesten Buch zu Felde zieht. In vier Essays, die sich inhaltlich leider etwas überschneiden, variiert er das Thema der allgemeinen Berufung zur christlichen Heiligkeit in der Welt und liefert zugleich eine Einführung in die Spiritualität des Opus Dei, dem er als Professor an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom selbst angehört. Die institutionell- organisatorische Gestalt des nach Rhonheimer "geradezu grotesk missverstandenen" Werkes wird kaum thematisiert - das besorgten schon etliche andere Autoren, pro und contra. So wie man die Kirche ohne den christlichen Glauben schwerlich verstehen und gerecht beurteilen kann, so wird man auch vom klischeebefrachteten Image des Opus Dei erst durch eine Betrachtung seines spirituell-pastoralen Charismas zu einem unverzerrten Bild gelangen. Erfrischend ist schon Rhonheimers Negativ-Definition im Vorwort: "Das Opus Dei ist keine ,Gemeinschaft oder ,innerkirchliche Gruppierung, der es darum ginge, Gleichgesinnte zu sammeln, um ihnen ein Hort frommer Beschaulichkeit und ein schützendes Treibhaus in Abschottung vom Getriebe dieser Welt zu sein. Es versteht sich vielmehr, im Dienst an den einzelnen Diözesen und als harmonische Ergänzung zur Normalseelsorge, als pastorales Instrument der Weltkirche (...), um erneut ins Bewusstsein zu rücken, was im Laufe der Jahrhunderte fast ganz in Vergessenheit geraten ist und auch heute noch keineswegs zum Normalbewusstsein des Christen gehört, dass nämlich alle Gläubigen, wo auch immer sie leben und arbeiten, auf Grund der Taufe zur Fülle des Lebens in Christus, zur Heiligkeit und zum Apostolat und damit zur vollen Mitverantwortung für die eine und einzige Sendung der Kirche berufen sind".

Orte der Begegnung mit Christus können nach einem berühmten Wort des Gründers Josemaría Escrivá ein Labor, der Operationssaal eines Krankenhauses, eine Kaserne, der Lehrstuhl einer Universität, eine Fabrik oder Werkstatt, ein Acker oder ein Haushalt sein - "in diesem ganz unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns. Sei davon überzeugt: Jede noch so alltägliche Situation birgt etwas Heiliges, etwas Göttliches in sich, und euch ist es aufgegeben, das zu entdecken". Durch die Entdeckung dieses quid divinum, des "göttlichen Etwas" in der Prosa des Alltags könnten ganz gewöhnliche Bürger dieser Welt, Frauen und Männer aller Gesellschaftsschichten, ihren Mitmenschen zum alter Christus, einem "anderen Christus" werden, ja sogar ipse Christus, "Christus selbst". Ein besonders unkonventionelles Beispiel solcher Heiligung der Welt ist Escrivás Vergleich des Ehebetts mit einem Altar - was ebenso wenig dem Klischee der Leibfeindlichkeit entspricht wie seine ausdrückliche Dankbarkeit gegenüber Gott, dem Schöpfer alles Schönen, die keusche Nacktheit der kapitolinischen Venus betrachten zu dürfen. Seit der Inkarnation, "nachdem das Wort Gottes unter den Menschen geweilt, Hunger und Durst verspürt und mit seinen Händen gearbeitet hat, nachdem es Freundschaft und Gehorsam, Leiden und Tod erfuhr", könnten wir Menschen überhaupt nicht mehr behaupten, "es gäbe Wirklichkeiten - seien sie nun gut und edel oder auch nur indifferent - , die ausschließlich profan sind".

Rhonheimer sieht den Heiligen Josemaría mit dieser seit 1928 verkündeten Lehre von der "universalen Berufung zur Heiligkeit" als frühen Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium". Allerdings sei die Öffnung zur Welt später denaturiert zum Anpassungsdrang, "gleichsam wieder auf die Höhe der Zeit zu kommen. Doch das war ein Missverständnis, denn das Konzil hatte nicht die Absicht, die Laikalisierung, Verweltlichung von Ordensleuten und Klerikern zu fördern und diesen zu sagen, sie sollten nun doch endlich, modern und zeitgemäß werdend, sich vermehrt der Welt zuwenden. (...) Umgekehrt beabsichtigte das Konzil auch nicht eine Art ,Klerikalisierung der Laien im Sinne einer nur vermehrten Mitarbeit in den amtskirchlichen Strukturen, in Pfarrei und offiziell-kirchlichen Organisationen." So sei das mit dem "allgemeinen Priestertum der Gläubigen" nicht gemeint gewesen. Übrigens auch nicht wie bei den Protestanten: Zwar waren es die Reformatoren, die als erste das gewöhnliche Leben und die Arbeit als christliche Berufung wiederentdeckt haben und damit einen wesentlichen Anteil an der Gestaltung unserer modernen Welt nahmen - was "in der katholischen Apologetik oft zu Unrecht minderbewertet oder gar übersehen" werde, räumt Rhonheimer ein, doch könne dieser "wahre Kern der protestantischen Wiederentdeckung des christlichen Wertes des gewöhnlichen Lebens (...) nur innerhalb der Gesamtheit des katholischen Glaubens gerettet und auf Dauer fruchtbar gemacht werden". Die Reformatoren hätten wichtige vermittelnde Instanzen wie Amtspriestertum und Sakramente über Bord geworfen und jeden einzelnen unmittelbar zu Gott gestellt: "Jeder sitzt jetzt in seinem eigenen Boot und muss selbst rudern und ist in diesem Sinne ,Priester seines eigenen Daseins. Das Boot ist Christus und das Ruder sein eigener Glaube" - unter den Bedingungen menschlicher Schwäche nicht gerade ein komfortables Szenario. Andererseits sei die katholische Vorstellung eines Kirchenschiffs, in dem die Kleriker und Ordensleute ruderten und die Laien als Passagiere mitfuhren, auch daran gescheitert, dass, etwa zur Zeit der Reformation, "das Schiff Petri ziemlich leck geworden war und die Ruderer müde, faul oder einfach zu schwach, um das Schiff voranzubringen". Es habe damals verständliche Gründe für die Annahme gegeben, dass "der üble Zustand von Klerus und Ordensleuten und der Kirche insgesamt vielleicht eine Folge der Tatsache dieser unseligen Arbeitsteilung war". Die radikale Ablehnung des asketisch mönchischen Weltverzichts und des apostolischen Zölibats zeuge hingegen von einer "eigenartigen Einseitigkeit in der Betonung der Weltlichkeit menschlicher Existenz" - und das, obwohl die Reformatoren Welt und Mensch für durch die Sünde radikal verdorben hielten. Nach der Abschaffung der Kirche als Instrument des Heils habe das puritanische Arbeitsethos Erfolg, Gewinn und Reichtum als Maßstab des Erwähltseins und eigenen Heils begriffen und durch eine rationalisierte Lebensführung ohne Freude am Genuss der irdischen Güter herzustellen versucht. Max Weber nannte diese Haltung "innerweltliche Askese". Der Umschlag in eine utilitaristische Tüchtigkeitsmoral habe "durch die Hintertür" sogar die von der Reformation verabscheute Werkgerechtigkeit wieder einziehen lassen und das providentialistische Denken zur passiven Hinnahme konkreter Lebensumstände und obrigkeitlicher Weisung als Wille Gottes verleitet. Damit steckte in dieser Wiederentdeckung der Welt "von Anfang an der Wurm"; sie entspringe als säkularisierte Form des asketischen Mönchsideals nicht jener Liebe zur Welt und radikalen Bejahung ihres Gutseins als Gottes Schöpfungswerk, aus welcher ein echtes Interesse an ihrer Heilung von der Verderbnis der Sünde erwachsen könne. "Es fehlt die innere Beziehung zwischen Arbeit und Erlösung".

An dieser differenzierten, auch historisch-soziologisch kundigen Auseinandersetzung Rhonheimers mit dem reformatorischen Weltverhältnis wird deutlich, dass der Christ vor allem "eine gute Unterscheidungsfähigkeit besitzen" muss. Der rechte "christliche Materialismus und Optimismus" nach Escrivá habe neben der leidenschaftlichen Liebe zur Welt immer auch deren Ambivalenz im Auge behalten, welche Johannes zu der Warnung bewegt habe: "Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht." Gemeint sei damit aber nicht die Welt als solche, sondern das, was der Evangelist konkret zur Sprache bringe: "Ungeordnete Begierden der Sinne und des Geistes, allen voran der Stolz, der Eigendünkel, die Eitelkeit, die ungeordnete Selbstliebe und alle daraus entspringenden Laster. ,Welt in diesem Sinne ist das verdorbene Herz des Menschen." Dagegen müsse mit der wichtigsten ,Waffe des Opus Dei gekämpft werden: dem Gebet der "kontemplativen Seele" inmitten der irdischen Wirklichkeiten samt ihrer "vielfältigen Sachzwänge", ihrem "ungeheuren Druck", ihrem "durch Hetze und Unregelmäßigkeit gezeichneten Lebensrhythmus", ihrer "Flut von Sinnesreizen" aus dem "überbordenden Angebot der Unterhaltungsindustrie". Und selbst dort sollte ein Christ noch tätig sein können, ja dies sei sogar ausgesprochen erwünscht, gemäß dem Herrenwort: "Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst" (Joh 17,15), welches übrigens auf einem Fries in der "Villa Tevere", dem Sitz der zentralen Leitung des Opus Dei in Rom, zu lesen ist. Im Kampf gegen das Böse erweist "die traditionelle oft eben einseitig betonte Sicht der Welt als Hindernis und Versuchung" für Rhonheimer dann doch "durchaus ihre Berechtigung" - und die Einübung in die christlichen Tugenden wie Gerechtigkeit, Klugheit, Starkmut, Maß, Geduld, Gelassenheit, Arbeitsamkeit, Freude und Toleranz ihre Notwendigkeit. Der Herr fordere "nicht einen durchschnittlichen, überdurchschnittlichen oder außerordentlichen Einsatz, sondern eine Entschlossenheit, die bis zum wirklich Heroischen gehen muss" (Escrivá). Dies könne Selbstverleugnung und handfeste "innere Abtötung" verlangen, beständige Läuterung der Absicht und "mehr als nur bloßes ,Gutsein: (...) Wir brauchen ,Aufrührer. Angesichts des heutigen Hedonismus, der heidnischen und materialistischen Strömungen will Christus echte Nonkonformisten, ,Rebellen aus Liebe!" Sich selbst bezeichnet der temperamentvolle Heilige als einen "Sünder, der Jesus Christus wie verrückt liebt". Wenn die gleichzeitige "leidenschaftliche Liebe zur Welt" in der Einheit von Weltexistenz und geistlichem Leben zur "ureigenen Sendung der Kirche" erklärt wird, wundert man sich allerdings, dass Rhonheimer zumindest Ordensmitglieder offensichtlich doch "aus der Welt genommen" sieht: "Es kann im christlichen Leben nicht einfach nur um die in der Tradition so genannten ,evangelischen Räte gehen; dies wäre zugleich zu wenig und zu viel. Zu wenig, weil nicht nur Gehorsam, Armut und Keuschheit von Bedeutung sind, sondern alle Tugenden gefragt sind. Zu viel, weil die Spiritualität der evangelischen Räte ja verbunden ist mit der Idee eines ,Standes der Vollkommenheit, in den derjenige sich versetzt, der Gott und der Kirche gelobt, diesen Räten gemäß sein Leben zu gestalten, sich dadurch vom gewöhnlichen Gang des Lebens in religiösen Gemeinschaften absondert und damit eben grundlegend der ,Sorge um diese Welt entsagt." Eine ermattete Kirche, deren flächendeckende Präsenz in Form von intensiver Gemeinde-, Verbands- und Kategorialseelsorge auf absehbare Zeit weiter ausgedünnt werden dürfte und deren Orden es oft nicht mehr gelingt, ihre Klöster als geistliche Zentren vital zu erhalten, wird von Laien getragene geistliche Gemeinschaften wie das Opus Dei als eine Bereicherung und Ergänzung der traditionellen ortskirchlichen Pastoral in Zukunft dringend brauchen. "Oasen spiritueller Erneuerung, geistlicher Formung und apostolischen Ansporns" sieht Martin Rhonheimer in den Zentren und körperschaftlichen Einrichtungen des Werkes. Von ihnen gehe ein "kapillares Apostolat" aus, das die einzelnen Christen befähige, "in tiefer Verbundenheit mit ihrem Herrn in ihrem eigenen Lebenskreis als Sauerteig in der Masse, als Licht und als ,Salz der Erde zu wirken" und damit die Präsenz der Kirche in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen aufrecht zu erhalten. Mit der "Mobilisierung der großen Masse der Normalchristen für das Reich Gottes" dürfte das Ziel allerdings sehr ehrgeizig formuliert sein.

ANDREAS PÜTTMANN

Andreas Puttmann. Die Tagespost