Josemaría Escrivá - ein Mann der Gegensätze

Als ich anfing, mich mit der Biographie von Josemaria Escrivá auseinander zu setzen, um 1994 das Buch “El hombre de Villa Tevere” zu schreiben, beunruhigte mich die Tatsache, mich mit einem Wust von archiviertem Material und abstrakten leblosen Zeugnissen befassen zu müssen.

Pilar Urbano, Journalistin und Schriftstellerin

Als ich anfing, mich mit der Biographie von Josemaria Escrivá auseinander zu setzen, um 1994 das Buch “El hombre de Villa Tevere” zu schreiben, beschäftigte mich die spannende Frage: Gibt es den lebendigen „Mann von Villa Tevere” oder gibt es ihn nicht? Da ich ihn nicht mehr habe erleben können, beunruhigte mich die Tatsache, mich mit einem Wust von archiviertem Material und abstrakten leblosen Zeugnissen befassen zu müssen. Das war nämliche meine Befürchtung: Mich einem tugendhaften Helden gegenüber zu sehen, der sehr erhaben, aber irgendwie ein Skelett ohne Fleisch und Blut war.

Eine Gestalt aus Fleisch und Blut

Je weiter ich mit meinen Nachforschungen kam, desto mehr begegnete ich einer Gestalt aus Fleisch und Blut. Zweifelsohne hatte ich einen christlichen Helden vor mir, allerdings einen Helden ohne Legende und ohne Heiligenschein. Ein Held des Alltags, des Gewöhnlichen, ein ganz normaler Held. Ein Held für jede Lebenslage. Einmal sogar glaubte ich, es einfach mit einem normalen Pfarrer zu tun zu haben. So nannte er sich selbst seinem Zahnarzt Dr. Hruschka gegenüber, als dieser ihn während der Behandlung seiner hartnäckigen Backenzähne bat: „Monsignore. bitte beschweren Sie sich, wenn ich Ihnen weh tue”, worauf Escrivá erwiderte: „Nur Mut, tun Sie nur und machen Sie sich keine Sorge um mich, ich bin nur ein stinknormaler Pfarrer!”

Ein Pfarrer ohne Pfarrei, aber mit Gläubigen auf der ganzen Welt. Ein Priester nach altem Schlag zwar, mit den traditionellen Gewohnheiten unserer Großeltern, aber immerhin so fortschrittlich, eine Botschaft zu verbreiten, die laut Vatikan ein Jahrhundert zu früh verkündet wurde. Ein gutgelaunter Priester, der seine Soutane als „Regenschirmhülle” bezeichnete, ihr aber jeden Morgen einen Kuss gab, bevor er sie anzog. Ein Priester, der sich auf den Straßen von Madrid, Rom oder London wohler fühlte als zwischen den dunklen und verstaubten Wänden einer Sakristei. Ein weltgewandter Kleriker, der seine Rechte einforderte und darin eine ernste Verpflichtung sah. Ein paradoxer Kleriker, der sich als „antiklerikal” definierte... aus Liebe zur Kirche.

Entweder Heiliger oder Störfaktor

Es war nicht nötig, eine Statue zu zerschlagen, um die Menschlichkeit wahrzunehmen, die seine Person auszeichnete. Es war ein Priester, der genauso ergriffen war, wenn er das Brot und den Wein konsekrierte, als wenn er die Nachricht über den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei erhielt. Ein Mann, der unter seine Briefe die Unterschrift der Sünder Josemaría setzte und gleichzeitig die Sünden der Welt beweinte, wenn er die Zeitung las. Er war also ein guter Sünder, jemand, der sich als unnützes Werkzeug verstand – allerdings als ein von Gott auserwähltes und benutztes Werkzeug, um ein Werk zu verwirklichen, das seine Fähigkeiten überstieg. Jemand, der vor dem Dilemma stand, entweder heilig zu werden oder ein Hindernis für seine Sendung zu sein. Und der dann die „entschlossene Entschlossenheit” an den Tag legte, sich durch nichts davon abhalten zu lassen, das Opus Dei zu verwirklichen, um der Kirche zu dienen und andere mit seiner Liebe zu Gott anzustecken. Das war die Person, die ich vor mir hatte: ein Held, ein Held aus Fleisch und Blut. Ein Mensch, der immer geheiligte Erde ist, voller Schwächen und Geheimnissen. Einer, der die Hindernisse wegräumt. Ein kriegerischer Kämpfer gegen sich selbst. Eine großartige Mischung aus Lehm und Gnade.

Die Gegensätze

Die am wenigsten erwartete Entdeckung waren aber die Kontraste in seiner Persönlichkeit. Mit jeder Geschichte, mit jedem Satz, mit jeder Begebenheit aus dem Leben Escrivás hatte ich vor mir die Endstücke eines Stromkabels ... sein Temperament, seine Tugenden, seine Lebenshaltung erschienen immer als Tandem entgegengesetzter Werte, die sich nicht neutralisierten, sondern eine dynamische Spannung erzeugten oder sich gegenseitig mit verschiedenen Nuancen, mit Schatten und Licht bereicherten. Der schwungvolle und unternehmungslustige Escrivá war auch gleichzeitig ein kranker Escrivá, dessen Körper am Ende des Tages nur die Seele aufrecht erhielt. Der lebensfrohe, witzige, immer zum Singen bereite Escrivá war ebenso auch der asketische, zu Opfer und Verzicht bereite Escrivá. Der Escrivá, der anstrengende Reisen ohne eine Minute Pause unternahm und für den die Erholung in einem Wechsel der Tätigkeit bestand, war auch derjenige, der ohne festen Plan und ohne Uhr lebte –„meine Pläne liegen in den Händen Gottes”, „ich brauche keine Uhr, nach einer Sache kommt die nächste”, „ich habe keine Zeit, um an mich zu denken”. Der Escrivá, der auf Bühnen stieg, um zu predigen, und dessen Anziehungskraft viele Menschen beeindruckte und beeinflusste, war derselbe Escrivá, der um sein eigenes Verschwinden bemüht war: „Mich verbergen, das ist meine Aufgabe – Jesus allein soll glänzen.”

Die hier angeführten Gegensätze, die ich bei Josemaría Escrivá beobachtet habe, widersprechen sich nicht, sondern jeder von ihnen verstärkt den Wert des anderen und ist ein Beweis für ihn. Sie stellen auf moralischer Ebene den Prüfstein des Silbers dar: der Jaspis, der auf edlem Metall ein Zeichen einprägt – einen „Kontrast” – als Garantie seines Wertes. Bei Escrivá garantiert jeder Kontrast das Vorhandensein einer Tugend. So sind es z.B. nicht die fehlenden Tränen, sondern das Lächeln unter Tränen ist es, was einen aus Liebe getragenen Schmerz glaubhaft macht. Genauso kann von gelebter Armut reden, nicht nur wer sich in einer prekären Situation befindet, sondern wer großzügig auf die Not der anderen reagiert und um sie zu lindern auf das Überflüssige oder sogar auf das Notwendige verzichtet, obwohl er es zur Hand hat.

Das Opus Dei – eine revolutionäre Neuheit

Es geht hier nicht darum, eine Menge von Begebenheiten aus dem Leben Escrivás im Detail zu beschreiben – diese sind bereits durch Zeugnisse belegt, durch die man ihn privat oder öffentlich erlebt und wo unzählige Gegensätze sichtbar werden. Ich wollte lediglich einige wenige erwähnen:

Die revolutionäre Neuheit des Opus Dei erfindet nichts. Wie jede Revolution geht sie zu den Ursprüngen zurück. Dort entdeckt sie neu und auf radikale Art und Weise, dass jeder Mensch, allein weil er geboren ist, zur Heiligkeit berufen ist. Sie macht auch deutlich, dass die Christen diejenigen sind, die die Energie – den Geist – besitzen, um die Gesellschaft von ihnen her zu beleben und dadurch in der Stadt der Menschen die Stadt Gottes aufzubauen. Das ist der eigentliche Sinn der Geschichte.

Das Leben Escrivas ist eine Herausforderung für die Hoffung. Seine intensive Aussaat, unermüdlich und bis zum letzten Winkel der Erde, die eine Ernte zahlreicher Berufungen für die Kirche einbrachte. Seine mühevolle juristische Wanderung, auf der er fand, was er nicht suchte und suchte, was er nicht fand. Er findet es nicht, weiß aber wohl, dass es existiert. Schon sehr bald erkannte er die richtige Formel für das Opus Dei. Aber es mussten noch 40 Jahre vergehen, bis die Kirche sie anwendet. In dieser Zeit bleibt Escrivá nicht untätig. Tag für Tag vertieft er sich in die schwierige Aufgabe, seit weit über tausend Jahren nicht mehr begangene Wege neu zu erschließen, die breiten Straßen, auf denen die Laien, the ordinary people, ein „heiliges Volk, ein priesterliches Volk” werden können. Diese Anstrengung verlangt Genauigkeit – es darf noch nicht mal den Anschein erwecken, als stünde er mit derm Heiligen Stuhl nicht in Einklang. Trotz allem und obwohl Escriva zu den Erbauern gehört, die mehr Wert auf die den letzten Stein als auf den ersten legen, stirbt er, ohne die Errichtung des Opus Dei als Personalprälatur zu erleben.

Pilar Urbano, Journalistin. Scnriftstellerin. Verfasserin einer Biographie über den hl. Josefmaria: El hombre de Villa Tevere