“Der Papst hat uns gebeten, das Evangelium in den Mittelstand zu tragen.“

In einem Interview mit der italienischen Zeitung Corriere della Sera spricht der Prälat des Opus Dei, Fernando Ocariz, über die Aufgaben des Werkes, die Verbundenheit mit dem Papst und die Flüchtlingsproblematik.

Von Gian Guido Vecchi, Rom

„Mein Vater war Offizier in der Republikanischen Armee, er war mit Franco nicht einverstanden. Gegen Ende des Bürgerkriegs befand er sich in Katalonien, und um seine Familie zu retten, ging er nach Frankreich. Deswegen bin ich in Paris zur Welt gekommen, einen Monat nach dem Eintreffen der amerikanischen Truppen und der Befreiung. Meine einzige Erinnerung ist die Rückkehr nach Madrid, ich war drei Jahr alt…“

Monsignore Fernando Ocáriz, 72, ist der neue Prälat des Opus Dei. Er verfügt über eine reiche Erfahrung: Seit 1994 war er Generalvikar und somit der engste Mitarbeiter von Bischof Javier Echevarría. Er ist ein Mensch, der aufmerksam zuhört und seine Worte abwägt. Das merkt man beispielsweise, wenn er erzählt, wie er 1988 als Konsultor der Glaubenskongregation an den Gesprächen mit Erzbischof Lefebvre teilnahm. Es ging darum, ein Schisma zu verhindern: „Lefebvre hatte zugestimmt, am Tag darauf widerrief er. Ich stand neben Kardinal Ratzinger, und als wir alleine waren, sagt er zu mir: Sind die sich denn nicht bewusst, dass sie nichts sind ohne den Papst?“

Im ersten Stock der Kurie der Prälatur gibt es ein Wohnzimmer, in dem sich der Gründer gerne mit den ersten Studenten des Opus Dei unterhielt. Auch der dritte Nachfolger des heiligen Josefmaria Escrivá de Balaguer kam nach Rom, doch vor dem Doktorat in Theologie studierte er Physik in Barcelona.

Was empfinden Sie angesichts der Ereignisse in Katalonien?

„Traurigkeit und ein wenig Schmerz wegen der Spannungen, welche die Menschen erleben. Was in diesen Tagen dort geschieht, war für mich Anlass zu beten: vor allem, dass es nicht zu Gewalttätigkeiten kommt und dass die Menschen einander mit Respekt begegnen, auch wenn sie unterschiedliche Vorstellungen haben. Ich will nicht auf politischen Fragen eingehen, aber ich bete zum Herrn, dass er ihnen beisteht und ihnen hilft, besonnen mit den gesetzlichen Gegebenheiten umzugehen: sonst droht das Chaos.“

Das Opus Dei in Zeiten des Pontifikats von Franziskus: ändert sich da etwas?

„Jeder Papst setzt seine Schwerpunkte, und wir sind aufgerufen, uns dementsprechend einzusetzen. Die Beziehung zwischen dem Charisma des Opus Dei und den Päpsten – es könnte gar nicht anders sein – ist dieselbe wie bei allem, was katholisch ist: affektive und effektive Einheit. Das Schreiben Evangelii gaudium lädt uns ein, die Freude des Evangeliums den Menschen unserer Zeit nahezubringen. Das Charisma des Opus Dei stellt eine konkrete Weise dar, diese Mission umzusetzen. Vor allem richtet es sich an all jene, die sich im Sinn des Evangeliums im täglichen Leben einsetzen wollen: bei der Arbeit, in der Familie, in den sozialen Beziehungen.“

Was hat der Papst Ihnen gesagt?

„Er hat uns ermutigt, die Freude des Evangeliums besonders in die Peripherien der Mittelschicht zu tragen, in das Berufsleben und die Welt der Intellektuellen. Es geht dabei nicht um geographische, sondern existentielle Randbezirke, die nicht selten weit von Gott entfernt sind. Dorthin müssen wir den Blick richten, den barmherzigen Blick Jesu; das bedeutet Unterstützung, ein offenes Ohr, Gemeinschaft und Zeit zu schenken.“

Stimmt es, dass Sie bei den Jesuiten in die Schule gegangen sind?

„Ja, in die Areneros-Schule, von meinem neunten Lebensjahr bis zum Ende der Gymnasialzeit. Dankbar erinnere ich mich an die umfassende christliche Bildung und den Respekt gegenüber Erwachsenen und Kindern, die man dort pflegte. Zu dieser Zeit gab es an vielen Schulen noch die Bestrafung mit Schlägen. Bei uns habe ich nie gesehen, dass ein Jesuit die Hand gegen einen Jungen erhob.“

Bei Ihrer Audienz hat Papst Franziskus drei Prioritäten erwähnt: Die Familie, die Jugend sowie „proaktive Sensibilität für die Bedürftigsten“. Was bedeutet das?

„Wenn man das Bild von der Kirche als Feldlazarett weiterdenkt, dann würde man sich wünschen, dass jeder zu einem ‚Spital‘ für die Mitmenschen wird. In unserer Gesellschaft gibt es so viele Verwundete. In ihrem Leben mitten in der Welt sehen sich die Gläubigen des Opus Dei tagtäglich mit diesen Verwundungen konfrontiert. Die Herausforderung besteht darin, bessere ‚Samariter‘ zu werden: Männer und Frauen, die die Ärmel aufkrempeln und sich mit Phantasie und Einsatz um die Lösung der Anliegen der Anderen bemühen, als wären es ihre eigenen. Nächstenliebe ist nie theoretisch oder allgemein, jeder Mensch zählt, weil Christus für ihn gestorben ist.“

Manche zeichnen ein Bild vom Opus Dei als Klub der Reichen…

„Die Menschen in der Prälatur spiegeln nichts anderes als die Gesellschaft ihres jeweiligen Landes wider: Die überwiegende Mehrheit setzt sich zusammen aus einfachen Beschäftigten, Lehrern, Hausfrauen, Geschäftsleuten, Studenten, Arbeitern… Wer mit Mühe bis zum Monatsende durchkommt, macht selten Schlagzeilen. Das Klischee entsteht, weil sich Leute bisweilen mit fantasievollen Erwartungen dem Opus Dei nähern. In zwei Wochen, wenn sie sehen, dass es darum geht, anderen zu dienen und geistliche Begleitung zu bekommen, sind sie erfahrungsgemäß wieder weg.“

Worin bestehen die Aktivitäten zugunsten der schwächeren Gesellschaftsschichten?

„In Rom, um ein Beispiel zu geben, ist das Centro ELIS sei 50 Jahren im Stadtteil Tiburtino tätig. Zu Beginn war das ein sozial stark benachteiligtes Stadtviertel. Die Ausbildung, die das Zentrum anbietet, hat inzwischen Generationen von Mechanikern, Uhrmachern, Arbeitern und Goldschmieden hervorgebracht, die ihren Platz in der Arbeitswelt gefunden haben. Zurzeit plant ELIS eine unentgeltliche Vollzeitschule, die auch an Wochenenden geöffnet ist. So kann sie auch Kinder und Jugendliche vom Stadtrand Roms aufnehmen, von denen die meisten Migranten der ersten oder zweiten Generation sind. Gott sei Dank sind inzwischen viele vergleichbare Institutionen weltweit entstanden!

Was halten Sie von den Anschuldigungen, welche in Italien gegen NGOs erhoben werden, die Migranten retten?

„Jenseits der politischen Debatte scheint mir, dass Italien der Welt ein christliches Beispiel gibt, wenn es Menschen aufnimmt, die aus Verzweiflung das Mittelmeer unter unmenschlichen Bedingungen überqueren. Es ist Aufgabe der politischen Führung zu analysieren, wie die Flüchtlingswellen aufgefangen und integriert werden sollen, mit Großherzigkeit und in einem gerechten gesetzlichen Rahmen. Und dann ist da noch die Haltung jedes einzelnen: das Herz eines Christen errichtet keine Mauern oder Hindernisse, sondern erkennt Jesus im menschlichen Leid eines Migranten.“

Der Papst und die Kirche im Aufbruch: Was bedeutet das für das Opus Dei?

„Es geht darum, authentische Zeugen des Evangeliums bei der Arbeit und in der Familie zu sein. Die Gläubigen bewegen dieselben Sorgen wie alle anderen, sie begegnen denselben Ungerechtigkeiten und teilen dieselbe Hoffnung. Und mitten in diesem Helldunkel kommt es zur Begegnung mit Jesus. Er ermutigt sie, auf alle zuzugehen, um die Freude und die Hoffnung des Evangeliums zu teilen.“

Gian Guido Vecchi

Corriere della Sera