Betrachtungstext: 5. Woche im Jahreskreis – Dienstag

Der wahre Sinn des Gesetzes – Gott bittet uns, unser Herz hinzugeben – Die Liebe ist das Gesetz des Heiligen Geistes

WÄHREND seines ganzen öffentlichen Lebens wurde Jesus ständig von den Pharisäern beurteilt. Da sie nichts fanden, was sie ihm vorwerfen konnten (vgl. Lk 6,7), richteten sie ihren Blick nicht selten auf das Verhalten seiner Jünger: Bei ihnen suchten sie nach Rissen, die sie beim Herrn nicht finden konnten. Bei einer Gelegenheit entbrannte die pharisäische Empörung darüber, dass die Apostel Brote aßen, ohne alle vorgesehenen Rituale zur Reinigung der Hände durchgeführt zu haben. Vielleicht erinnern wir uns noch daran, wie unsere Mütter darauf bestanden, dass wir uns vor dem Essen die Hände waschen sollten. Mehr als einmal haben wir es widerwillig getan, vielleicht nur, um eine unangenehme Situation zu vermeiden. Doch im Erwachsenenalter haben wir entdeckt, dass es keine willkürliche Forderung war: Es war eine bedeutungsvolle Geste, sie hatte einen Sinn, denn es ging um unsere Gesundheit.

Man kann sagen, dass der Gesetzessinn der Pharisäer, die Jesus in Frage stellten, nie innerlich gewachsen ist. Sie wuschen sich weiterhin die Hände, aber immer aus Furcht vor Bestrafung. „Die Angst zieht das Herz zusammen und hindert einen daran, den anderen entgegenzugehen, dem Leben entgegenzugehen1, erklärte Papst Benedikt einmal. Diese Pharisäer haben nie verstanden, dass Gottes Gebote keine Laune sind, sondern liebevolle Anleitungen zum Wohle ihrer Seelen. Sie haben nie erkannt, wie Papst Franziskus sagte, „dass das Gesetz nicht dazu da ist, uns zu Sklaven zu machen, sondern um uns frei zu machen, um uns zu Kindern zu machen (...). Starrheit ist keine Gabe Gottes, Sanftmut dagegen schon, ebenso wie Güte, Wohlwollen, Vergebung. Aber Starrheit nicht!“2 Hinter jedem Gebot steht der Wunsch Gottes, dass wir ein reines Herz haben, um ihn beschauen zu können (vgl. Mt 5,8). Letzteres ist das, worauf es ankommt.


IM CHRISTLICHEN LEBEN sind wir dazu berufen, dass unsere Zustimmung zu den Geboten mit einer immer größeren Reinheit des Herzens und nicht nur aus dem Eifer heraus erfolgt, sie zu erfüllen, oder um eine Genugtuung darüber zu empfinden, dass wir vermeintlich unseren Teil getan haben. Sicherlich können wir dem Irrtum der Pharisäer verfallen und denken, dass das christliche Leben aus einer Reihe von Dingen besteht, die „erfüllt werden müssen“, sodass wir den weiten Horizont der Heiligkeit in einen begrenzten Raum verwandeln, in dem es nur darauf ankommt, eine Sammlung von Pflichten buchstabengetreu zu erfüllen. Andererseits können wir auch in die gegenteilige Haltung verfallen, die auf die Ansicht hinausläuft, dass das Einzige, was für das Handeln zählt, das „Fühlen von Liebe“ in einem abstrakten Sinne ist, wobei es sich lediglich um ein angenehmes Gefühl handelt, das so, wie es kommt, auch wieder vergeht.

Deshalb greift Jesus in seinem Dialog mit den Pharisäern Worte aus dem Buch Jesaja auf, die uns einen Weg zeigen, um zu verstehen, was der Herr von uns erwartet: Dieses Volk ehrte mich mit seinen Lippen, sein Herz aber hielt [es] fern von mir (vgl. Jes 29,13). Das Zeugnis der Heiligen Schrift, schon im Alten Testament, ist in diesem Sinne einhellig: Was Gott von uns verlangt, ist die aufrichtige Hingabe unseres Herzens. Wer ständig den aufrichtigen Dialog mit Gott sucht, verfällt nicht in Skrupel, weil er seine tiefe barmherzige Liebe entdeckt; er verfällt auch nicht in Laxheit, weil er weiß, dass diese Liebe eine Entsprechung verdient und Worte allein dafür nicht ausreichen. „In Werken lebt die Liebe und nicht in schönen Worten“, pflegte der heilige Josefmaria zu sagen. „Werke, Werke! – Mein Vorsatz: Wie schon immer will ich Dir oft sagen – wie viele Male habe ich es heute bereits gesagt! –, dass ich Dich liebe. Aber vor allem will ich – mit Hilfe Deiner Gnade – durch mein Tun, durch die ,kleinen Dinge‘ des Alltags – mit beredtem Schweigen – meine Liebe zu Dir unter Beweis stellen.“3


DER HEILIGE PAULUS war ein Pharisäer und ein Sohn von Pharisäern (Apg 23,6). Er wuchs in einem Umfeld auf, das Gott durch die genaue Erfüllung der Gebote Ehre erweisen wollte. Ich war untadelig gemessen an der Gerechtigkeit, die im Gesetz gefordert ist (Phil 3,6), sagt er später von sich selbst. Doch in Paulus' Leben geschah etwas, das seine Vorstellung davon, was Gott von ihm erwartete, radikal veränderte: eine persönliche Begegnung mit Jesus Christus. Was sich von da an änderte, war nicht, dass Paulus aufhörte, das Gesetz Gottes zu erfüllen, sondern dass er wegen [Christus] alles aufgegeben hat (...), um Christus zu gewinnen und in ihm erfunden zu werden. Nicht meine Gerechtigkeit will ich haben, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott schenkt aufgrund des Glaubens (Phil 3,8-9).

Der heilige Paulus entdeckte, dass die Liebe dem Nächsten nichts Böses tut. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,10). Gelebte Liebe bedeutet vor allem zu erkennen, dass sie uns nur von Gott gegeben werden kann, dass sie ein Geschenk des Herrn ist. Der heilige Papst Johannes Paul II. sagte: „Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe (...) ist durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ,eingeschrieben‘. Deshalb wird es zum ,Gesetz des Geistes‘ (...). Außerdem ist es der Heilige Geist selbst, der auf diese Weise zum Lehrer wird und den Menschen aus dem Inneren seines Herzens herausführt.“4 Wir bitten die Gottesmutter, die im Gesetz niemals die Sklaverei, sondern die Freiheit der Liebe gesehen hat, um Hilfe, damit wir gemäß dem Heiligen Geist leben, was, mit Worten des heiligen Josefmaria, bedeutet, „sich von Gott ergreifen zu lassen, damit Er von Grund auf unser Herz erneuere und es nach seinem Maß gestalte5.


1 Benedikt XVI., Audienz, 11.4.2012.

2 Franziskus, Predigt, 24.10.2016.

3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 498.

4 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 9.8.1989.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 134.