Betrachtungstext: 28. Woche im Jahreskreis – Donnerstag

Die Demut, der Weg, der zu Gott führt – Gewissenserforschung: die Stimme des Herrn erkennen – Mut, um in unser Herz zu schauen

SOWOHL Lukas als auch Matthäus überliefern in ihren Evangelien die berühmte Weherede, in der der Herr den Schriftgelehrten und Pharisäern die Widersprüchlichkeit ihres Lebens vorhält. Der Meister tadelt die Führer mit scharfen Worten, weil sie sich mehr um den äußeren Schein als um ein Leben nach der Wahrheit kümmerten. Weh auch euch Gesetzeslehrern! Ihr ladet den Menschen unerträgliche Lasten auf, selbst aber rührt ihr die Lasten mit keinem Finger an. Weh euch! Ihr errichtet Denkmäler für die Propheten, die von euren Vätern umgebracht wurden. (...) Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen (Lk 11, 46-47.52).

Weit davon entfernt, sich seine Worte zu Herzen zu nehmen, beginnen die Angesprochenen, Jesus Christus mit vielerlei Fragen hartnäckig zu bedrängen (Lk 11,53). Gewiss, der Herr hatte streng zu ihnen gesprochen. Hätten sie jedoch mit etwas Mut und Redlichkeit in sich hinein geschaut, hätten sie erkannt, dass Jesu Vorwürfe berechtigt waren. Doch dazu fehlte ihnen die Demut, jene Tugend, die es uns erlaubt, eine Zurechtweisung anzunehmen und den Weg der Umkehr einzuschlagen, wie es der Herr verlangt. Die Demut ist der Weg, wie Papst Franziskus sagt, „der uns zu Gott führt. Und eben weil sie uns zu ihm führt, führt sie uns gleichzeitig zu dem, was im Leben wesentlich ist, zu seiner wahrsten Bedeutung, zum verlässlichsten Grund, warum das Leben es wert ist, gelebt zu werden. Nur die Demut öffnet uns für die Erfahrung der Wahrheit, der echten Freude, der Erkenntnis, die zählt. Ohne Demut sind wir ,abgeschnitten’ (…) vom Verständnis Gottes, vom Verständnis unserer selbst.“1

Andere Male beobachten wir, wie der Herrn von der Einfachheit der Kinder gerührt ist, die zu ihm kommen und noch nicht gelernt haben zu lügen; oder von der Not der Aussätzigen, die darum bitten, geheilt zu werden, ohne sich von dem, was die Leute sagen, einschüchtern zu lassen; oder auch von der Redlichkeit derer, die sich mit Fragen an ihn wenden, weil sie die Wahrheit wissen wollen. Der Meister schätzt Authentizität und Redlichkeit. Deshalb wird er gelegentlich sagen: Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen (Mt 5,37).


DIE NEIGUNG der Pharisäer und Schriftgelehrten zur Selbstrechtfertigung ist so alt wie die Menschheit selbst. Als Gott erstaunt das Blätterkleid sieht, das Adam angelegt hat, und ihn fragt, ob er vom Baum gegessen hat, versucht unser Stammvater sich herauszureden: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben (Gen 3,12). Er schiebt Eva die Schuld zu, um sein eigenes Gewissen zu entlasten.

Don Javier Echevarría erzählt in seinen Erinnerungen, dass der heilige Josefmaria „stets gegen alle Arten von Ausflüchten gekämpft hat, die der Pflichterfüllung zuwiderlaufen, selbst wenn sie keine schwerwiegende Verfehlung gegenüber unserem Herrn darstellen. (...) Denn in diesen Details zeigt sich die Liebe. Deswegen lehnte er entschieden fünf Formen der Rechtfertigung ab, die er ohne zu zögern als ,Teufel‘ bezeichnete: Es ist so, ich dachte, ich glaubte, morgen, später.“2 Ein aufmerksames, wachsames Herz weiß, dass in diesen kleinen Kämpfen ein Stückchen Aufrichtigkeit und Treue auf dem Spiel steht.

Die Gewissenserforschung ist ein Mittel, das uns dabei hilft, uns selbst besser kennenzulernen und die ständigen Anrufungen Gottes in unserem Leben wahrzunehmen. Wenn wir manchmal feststellen, dass wir diesen Anrufungen nicht entsprochen haben, können wir den Herrn um die Gnade bitten, am nächsten Tag neu beginnen zu dürfen. Wie der heilige Josefmaria gerne sagte: „Unser Leben – das der Christen – soll einfach sein: Wir setzen uns ein, unsere immer gleichen Verpflichtungen Tag für Tag gut zu erfüllen, und wir kümmern uns darum, unsere göttliche Sendung in der Welt umzusetzen, indem wir der kleinen Anforderung jedes Augenblicks gerecht werden. Oder sagen wir es besser: Wir bemühen uns darum; denn wie oft gelingt es uns nicht und wir müssen dem Herrn in unserer abendlichen Gewissenserforschung sagen: Ich kann dir heute keine Tugenden anbieten, nur Fehler, doch mit deiner Gnade werde ich vorankommen und mich schließlich Sieger nennen können.“3


DER RUF und die Nachfolge Christi erfordern es, dass wir uns in unserer Liebe zu Gott prüfen. Im Gespräch mit Gott müssen wir uns unseren Schwächen stellen, ohne Angst, in einer aufrichtigen Gewissenserforschung, die es uns erlaubt, dem, was geschehen ist, einen Namen zu geben. Der selige Alvaro empfahl uns in einem seiner ersten Hirtenbriefe, „die Gewissenserforschung gewissenhaft zu machen“4. Mit anderen Worten, er ermutigte uns als seine Kinder, den Mut zu haben, ins Innere unseres Herzens zu schauen, in die Tiefe zu gehen und auch die Ursachen unserer Schwächen zu finden.

Diese Bemühung, uns selbst besser kennen zu lernen, wird uns helfen, in der Freiheit zu wachsen und authentisch zu sein. Das ist, was der Herr möchte und wozu er uns antreibt. „Die Gegenwart Gottes in unserem Leben zu vergessen“, so sagte Papst Franziskus, „geht einher mit der Unkenntnis über uns selbst – Gott nicht zu kennen bedeutet, uns selbst nicht zu kennen.“5 In der Gewissenserforschung können wir die Ideale, von denen wir uns leiten lassen wollen, auffrischen und Gott um seine Gnade bitten, uns zu helfen, unserer Berufung entsprechend zu leben. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, den Herrn aus nächster Nähe zu begleiten, ohne uns von dem fesseln zu lassen, was uns von ihm wegzieht. Als Jesus die ersten Apostel berief, folgten sie ihm, wie der heilige Josefmaria sagte, „indem sie alles verließen … Alles! Es kann gelegentlich vorkommen, dass wir, die wir die Apostel nachahmen möchten, nicht wirklich ,alles‘ verlassen, und wir behalten noch irgendeine Anhänglichkeit in unserem Herzen zurück, eine Unstimmigkeit in unserem Leben, mit der wir nicht abschließen wollen, um sie Gott als Opfer darzubringen. Wirst du dein Herz bis in die Tiefe prüfen? Nichts soll bleiben, was nicht ihm gehört; sonst lieben wir ihn nicht ganz, weder du noch ich.“6

Die Jungfrau Maria verstand es, ihre Liebe auf die Sendung auszurichten, die ihr der Engel verkündet hatte: die Mutter Gottes zu sein. Von da an an sollte ihr ganzes Leben bis in die kleinsten Details von dieser Berufung bestimmt sein. Sie möge uns dabei helfen, in den Anrufungen des Herrn Einladungen zu erkennen, mehr wir selber zu werden.


1 Franziskus, Audienz, 22.12.2021.

2 Javier Echevarría, Memoria del beato Josemaría (nicht auf Deutsch erhältlich).

3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 616.

4 Seliger Alvaro del Portillo, Brief 8.12.1976, Nr. 8.

5 Franziskus, Audienz, 5.10.2022.

6 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 356.