Betrachtungstext: 25. Woche im Jahreskreis – Donnerstag

Der Wunsch, Jesus zu sehen – Christus anziehen – Heiligkeit und Apostolat

IN DEN EVANGELIEN finden wir die unterschiedlichsten Menschen, die  Jesus sehen möchten. Einer von ihnen ist Herodes. Er hatte von den Wundern gehört, die Jesus wirkte, wusste aber nicht, was er davon halten sollte. Der Grund seiner Verwirrung war, dass einige sagten, Johannes sei von den Toten auferstanden. Daran konnte Herodes aber schwer glauben, weil er auf Betreiben von Herodias, der Frau seines Bruders, die Hinrichtung des Johannes persönlich angeordnet hatte. Johannes habe ich enthaupten lassen, sagte er. Wer aber ist dieser, von dem man mir solche Dinge erzählt? (Lk 9,7-9). Laut Lukas hatte Herodes den Wunsch, ihn zu sehen (Lk 23,8). Doch als er Jesus gegenüberstand, schwieg dieser. Der König hatte gehofft, dass Jesus vor seinen Augen ein Wunder vollbringen würde, und stellte ihm allerlei Fragen, doch Jesus antwortete nicht. Da verspottete ihn Herodes vor seinen Soldaten und verhöhnte ihn (vgl. Lk 23,6-12).

Lukas berichtet auch von einer anderen Person, die sich danach gesehnt hatte, Jesus zu sehen. Dies war der greise Simeon, ein gerechter und frommer Mann. (...) Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Christus des Herrn gesehen habe (Lk 2,25-26). Als er den Jesusknaben im Tempel sah, nahm er das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten: Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden (Lk 2,28-29). Sowohl Simeon als auch Herodes hatten den Wunsch, Jesus sehen, Herodes wusste seine Gegenwart allerdings nicht zu schätzen, da ihm die Göttlichkeit Jesu verborgen blieb. Seine Gier nach persönlicher Befriedigung und seine Neugier auf Wunder hinderten ihn daran zu erkennen, dass der Messias vor ihm stand. Das Beispiel Simeons hingegen lehrt uns, wie Papst Franziskus sagte, dass „die Treue im Warten unsere geistlichen Sinne schärft und uns empfänglicher macht, um die Zeichen Gottes zu erkennen“1. Bitten wir Gott um die Sensibilität Simeons. Er war voller Freude, Jesus nur in seine Händen nehmen zu dürfen.


DAS REGELMÄSSIGE Lesen und Betrachten des Evangeliums hilft uns, eine innigere Verbindung zu Christus aufzubauen; es hilft uns, unser Leben nach seinem Leben auszurichten, so dass unser Herz im Einklang mit seinem Beispiel und seinen Worte schlägt. Der heilige Josefmaria schrieb: „Ich riet dir, jeden Tag einige Minuten im Neuen Testament zu lesen und dich, wie eine Gestalt mehr, in jede Szene hineinzuversetzen und daran teilzunehmen, sodass du das Evangelium in deinem Leben ,Fleisch und Blut‘ werden lässt und ,auslebst‘.“2 So werden wir erkennen, dass Heiligkeit nicht einfach darin besteht, die Sünde zu vermeiden oder eine Reihe von Geboten zu beachten, sondern darin, immer mehr wie Jesus zu werden.

Der heilige Johannes Chrysostomus ermutigt uns: „Christus hat dir die Möglichkeit geboten, ihm nach Kräften ähnlich zu werden. Bange nicht bei dieser Kunde. Zu fürchten hast du nur, du könntest ihm nicht ähnlich werden.“3 Wenn wir dem Heiligen Geist gegenüber gefügig sind, wird sich das Bild des Herrn, das Antlitz der Kinder Gottes, in unserem Leben immer deutlicher zeigen. Und dies in erster Linie im alltäglichen Leben, wo wir, wie der heilige Josefmaria sagte, „die Prosa des Alltags in epische Dichtung“4 verwandeln.

Der Wunsch, Christus ähnlich zu werden, ändert unser tägliches Leben: sei es in der Familie, bei der Arbeit oder in unseren Freundschaften ... Der heilige Josefmaria betonte: „Gott möchte, dass wir zutiefst menschlich sind. Unser Kopf soll den Himmel berühren, aber unsere Füße müssen fest auf der Erde stehen. Der Preis für das christliche Leben besteht nicht darin, unsere Menschlichkeit abzulegen oder die Tugenden zu vernachlässigen, die andere Menschen besitzen, auch ohne Christus zu kennen. Der Preis für einen jeden Christen ist das erlösende Blut Jesu Christi; und ich sage es nochmals: Unser Herr will, dass wir sehr menschlich und sehr göttlich sind, und uns daher täglich neu bemühen, jenen nachzuahmen, der perfectus Deus, perfectus homo, vollkommener Gott und vollkommener Mensch ist.“5


DAS AUFRICHTIGE Bestreben, Christus kennenzulernen und ihm ähnlicher zu werden, wird uns zu der Einsicht führen, „dass unser Leben keinen anderen Sinn haben kann als uns hinzugeben im Dienst an unseren Mitmenschen“6 – so sagte der heilige Josefmaria. Ein Christ lebt nicht für sich selbst, sondern für alle Menschen um ihn herum. Selbst das scheinbar Persönlichste und Innerste – wie unser Innenleben und das Wachstum in den Tugenden – hat immer eine apostolische Dimension: Das Apostolat ist untrennbar mit der eigenen Heiligung verbunden, und umgekehrt.

Papst Franziskus schrieb: „Ein Christ kann unmöglich an seine persönliche Sendung auf Erden denken, ohne sie als einen Weg der Heiligkeit zu verstehen.“7 Paulus schreibt an die Thessalonicher: Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung (1 Thess 4,3). Und dieser Ruf des Herrn steht nicht im Konflikt mit anderen Lebenszielen, ganz im Gegenteil. Der Prälat des Opus Dei erinnert uns daran: „Mögen wir alle, Jugendliche und Erwachsene, verstehen, dass die Heiligkeit nicht nur kein Hindernis für unsere Träume ist, sondern ihre Vollendung darstellt. Alle Wünsche, alle Projekte und Lieben können Teil von Gottes Plänen sein.“8

Die Gottesmutter begleitet uns auf diesem Weg der Heiligung und des Apostolats. „Sie wird dafür sorgen“, so lesen wir beim heiligen Josefmaria, „dass wir uns als Brüder aller Menschen fühlen; denn wir alle sind Kinder dieses Gottes, dessen Tochter, Braut und Mutter sie ist. (...) Sie wird uns helfen, Jesus zu entdecken, der nahe an uns vorübergeht und in den Nöten unserer Brüder, der Menschen, in unsere Gegenwart tritt.“9


1 Franziskus, Audienz, 30.3.2022.

2 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 672.

3 Hl. Johannes Chrysostomus, Predigten über das Evangelium des hl. Matthäus, 78,4.

4 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 50.

5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 75.

6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 145.

7 Franziskus, Gaudete et exultate, Nr. 19.

8 Msgr. Fernando Ocáriz, Artikel in der Zeitung ABC, Licht, um zu sehen, Kraft um zu lieben, 24.9.2018.

9 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 145.

Foto: Jabari Timothy (unsplash)