Begegnungen mit Josemaría Escrivá

Meistens erzählte der Priester Alfons Par seine Erlebnisse mit dem Gründer des Opus Dei in kleinen Gruppen, die auch immer wieder von seiner Arbeit als Priester einer der ersten Jahrgänge und Pionier der Arbeit des Werkes in Deutschland hören wollten. Als er am 1. November 2002 plötzlich verstarb, hatte er sein 50jähriges Priesterjubiläum, 50 Jahre apostolische Arbeit in Deutschland und die Heiligsprechung des Vaters erleben dürfen.

Dr. Alfons Par schrieb diese Erinnerungen für das Buch "Josemaría Escrivá - Profile einer Gründergestalt" nieder, das anläßlich des 100. Geburtstages des heiligen Josefmaria erschien. Meistens erzählte er diese und andere Erlebnisse mit dem Gründer des Opus Dei in kleinen Gruppen, die auch immer wieder von seiner Arbeit als Priester einer der ersten Jahrgänge und Pionier der Arbeit des Werkes in Deutschland hören wollten. Als er am 1. November 2002 plötzlich verstarb, hatte er sein 50jähriges Priesterjubiläum, 50 Jahre apostolische Arbeit in Deutschland und die Heiligsprechung des Vaters erleben dürfen.

»Komm, du Halunke, ich will dich hypnotisieren!« Mit diesen überraschenden Worten, scherzhaft ausgesprochen und begleitet von einem gewinnenden Lächeln, hat mich Josemaría Escrivá, der Gründer des Opus Dei, bei meiner ersten Begegnung mit ihm begrüßt und umarmt, als ich ihm an einem Nachmittag Anfang Juni 1945 von Juan B. Torelló, dem Leiter des Opus-Dei-Zentrums »El Palau« in Barcelona vorgestellt wurde.

»El Palau« war eine apostolische Einrichtung für Studenten in der Calle Balmes. Ich bin zum ersten Mal zu Weihnachten 1943 dorthin gekommen, begleitet von einem befreundeten Kommilitonen, der bereits Mitglied des Opus Dei war. Er hat mich dort eingeführt. Für gewöhnlich trafen wir uns dort nachmittags. Es war eine Gruppe von etwa 20 bis 30 Studenten, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit diese Wohnung besuchten. Im Studierraum herrschte absolute Stille, und wir arbeiteten fleißig mit den Büchern bis etwa 18 Uhr. Dann gab es eine »Merienda« (eine Scheibe Brot mit Schokolade o.ä. und Limonade), für die jeder etwas mitbrachte. Danach konnten wir an einer »Meditation« in der kleinen Hauskapelle teilnehmen. In der Regel las jemand einige Punkte aus dem Buch »Der Weg« vor – dazwischen Momente der Stille – als Anregung und geistliche Impulse für das persönliche Gebet. Die einzelnen Punkte aus »Der Weg« haben mich von Anfang an gepackt und zum Wachstum meines inneren Lebens beigetragen. Nach der Betrachtung gab es einmal in der Woche einen Bildungskreis. Er wurde von einem älteren Studenten gehalten, der Mitglied des Opus Dei war. Es wurden Themen behandelt, die uns halfen, den Alltag mit christlichem Geist zu erfüllen und in unserem normalen Leben als Studenten die natürlichen und übernatürlichen Tugenden zu entfalten: Freundschaft, Geist des Dienens, Ausnutzung der Zeit, Leben aus dem Glauben, Nächstenliebe, Gebet als Kinder Gottes, Heiligung des Studiums, Sorge um die anderen, Apostolat … Die Atmosphäre von »El Palau« war sehr familiär, freundlich und angenehm. Sie gefiel mir, und ich fühlte mich dort sehr wohl, selbst wenn die Anforderungen, die an uns gestellt wurden, sehr hoch waren und manchmal sogar etwas unbequem oder unangenehm. So hörten wir bei der Betrachtung Sätze wie: »Du betest, tötest dich ab, arbeitest in tausend Dingen des Apostolates, aber du studierst nicht. Wenn du dich nicht änderst, dienst du niemandem. Das Studieren, die jeweilige Berufsausbildung, ist unter uns eine schwere Pflicht« und »Wenn es dir zukommt, Gott mit deiner Intelligenz zu dienen, ist Studieren für dich eine ernste Verpflichtung« (Der Weg, 334 und 336). Dazu kamen Besuche bei armen und kranken Menschen, Einkehrtage und so weiter. Auf diese Weise lernte ich den Geist des Opus Dei kennen, eine Spiritualität, die darauf ausgerichtet ist, Menschen zu Christus zu führen und ihnen zu zeigen, wie diese Vereinigung mit Gott in Christus mitten in der Welt möglich ist, in den normalen Umständen eines Christen, der die Welt liebt und sich von ihr nicht trennen will. Diese für mich damals neue innere Sehweise faßte Wurzeln in meinem Herzen und wuchs langsam, aber beständig. Am 29. April 1945 war es so weit. Der Entschluß, Gott mitten in der Welt zu dienen durch die Heiligung des Alltags und der beruflichen Arbeit und diese als Mittel des Apostolates zu gestalten, war in meinem Herzen reif und fest genug geworden, so daß Gott mir die Kraft verlieh, seiner rufenden Gnade Folge zu leisten. Ich schrieb Escrivá einen Brief, in dem ich um die Aufnahme in das Opus Dei als Numerarier-Mitglied bat. Ich war damals 22 Jahre alt, ein begeisterter Student der technischen Disziplinen und ein leidenschaftlicher Sportler.

Ein paar Wochen später (etwa Anfang Juni 1945) sagte mir Juan B. Torelló: »Morgen kommt der Gründer. Etwa um 15 Uhr ist er hier. Bitte sei pünktlich!« Ich kannte den Gründer bisher nur von einem Foto. Danach schien er ein fröhlicher Priester zu sein. Trotzdem war ich sehr gespannt und sah dem Augenblick meiner ersten Begegnung mit ihm mit großer Aufregung entgegen. Der Gründer, dachte ich, was für eine wichtige Person! Als ich am nächsten Tag pünktlich das kleine Wohnzimmer betrat, waren schon weitere acht junge Studenten im lebendigen und fröhlichen Gespräch mit dem Gründer zusammen. »Vater, das ist Alfons«, stellte mich Torelló dem Gründer vor. Und so kam es, daß er mich mit einem festen, freundlichen Blick begrüßte und mit den Worten »Komm, du Halunke, ich will dich hypnotisieren!« umarmte.

Damals zirkulierte in Barcelona das Gerede, daß Escrivá so viele junge Leute für das Opus Dei gewinne, weil er die jungen Leute hypnotisiere. So machte er sich mit seinem typischen Humor darüber lustig. Die Art und Weise, wie er diese Worte sprach, echt, natürlich, spontan, ohne jede Affektiertheit, dazu sein liebevoller Blick, die Umarmung haben mein Herz erobert. In der Tat, in diesem Moment waren alle meine inneren Hemmungen und Beklemmungen wie weggeblasen. An deren Stelle machte sich ein kindliches Vertrauen breit. Ich spürte deutlich: Hier hast du einen neuen Vater (meinen Vater hatte ich während des Bürgerkrieges verloren), du kannst dich ihm ohne Wenn und Aber anvertrauen. Es ist schwer zu beschreiben, wie es so schnell geschehen konnte. Es war herrlich! – Ich merkte: Ich bin sein geistlicher Sohn! Dieser erste Eindruck hat sich im Laufe meiner späteren Begegnungen mit ihm immer wieder bestätigt und vertieft. In dieser ersten Begegnung habe ich es mit Händen greifen können, daß das Opus Dei in der Tat eine geistliche Familie war und ist, mit einem gemeinsamen Geist selbst in der breitesten menschlichen Verschiedenheit seiner Mitglieder.

Kehren wir wieder zu meiner ersten Begegnung in »El Palau« zurück. Nach einem kurzen Gespräch sagte der Vater plötzlich zu Torelló: »Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich jetzt diese drei mit und wir gehen spazieren!« Diese drei waren die, die zuletzt um die Aufnahme ins Opus Dei gebeten hatten, also gewissermaßen die Jüngsten. »Alfons, nimm den Wagen, und wir fahren los. Du selbst bestimmst die Route.« Ich war überrascht; denn ich meinte noch, daß die Jüngsten die unwichtigsten seien, aber bald habe ich begriffen, daß für einen guten Vater die Jüngeren deswegen wichtiger sind, weil sie mehr Sorge und Aufmerksamkeit brauchen.

Ich fuhr zum Berg Montjuich, wo Ende der zwanziger Jahre die Weltausstellung stattgefunden hatte und sehr schöne Parkanlagen zu finden sind, zu einem Gartenrestaurant mit herrlichem Blick auf den Hafen von Barcelona und das weite Meer. Während der Fahrt dorthin hat sich Escrivá viel mit uns unterhalten. Es hat ihm großen Spaß gemacht, als wir am Stadion vorbeifuhren und ich ihm erzählte, daß ich dort mit Freunden zweimal in der Woche Leichtathletik trainiere. Er sprach unsere Sprache; er verstand uns sehr gut; im Herzen wohnte er in unserer Welt, der Welt der Jugend; er war wie einer von uns. Er interessierte sich aufrichtig für unsere Sachen. Wir spürten, daß sie ihn begeisterten. Er verstand es, ihnen übernatürlichen Sinn und Bedeutung zu geben. So habe ich angefangen zu verstehen, was die Säkularität im Geist des Opus Dei bedeutet.

Wir sollen sehr fromm sein, aber die Frömmigkeit der Kinder Gottes im Opus Dei ist keine Frömmigkeit, die uns »weltfremd« macht. Bei dieser ersten Fahrt mit dem Gründer habe ich klar gespürt, daß er ein Priester war, der die Welt leidenschaftlich liebte, ohne dabei verweltlicht zu sein, ohne sich vom »Weltgeist« im geringsten anstecken zu lassen. Meine Berufung, in der Welt zu bleiben, um dort Gott zu dienen, begann sich zu festigen.

Wir kamen in das Restaurant »Miramar« und nahmen an einem Tisch mit Blick auf den Hafen und das Mittelmeer Platz. Während wir eine Erfrischung zu uns nahmen, begann Escrivá laut zu »träumen«. Er hat uns sein Herz geöffnet. Er sprach mit einer solchen Sicherheit über die Zukunft des Werkes – das Opus Dei –, als ob es schon Realität und Gegenwart wäre. Sein Gottvertrauen war überwältigend. Er sprach von Studentenheimen, von Schulen aller Art, von Universitäten, von sozialen Einrichtungen, von Entwicklungshilfe-Initiativen und vielem mehr. Er sah schon damals das Opus Dei so, wie wir es heute sehen, über die ganze Erde verbreitet, mit vielen apostolischen Aktivitäten aller Art. Für uns war es erst ein Traum, denn immerhin bestand das Opus Dei in Barcelona damals aus zehn Studenten, die sich in El Palau trafen, und weiteren acht Berufstätigen, die in der Calle Muntaner wohnten. Die Frauen des Opus Dei hatten in Barcelona mit der apostolischen Arbeit noch nicht angefangen. Außer dem Gründer hatte das Opus Dei 1945 nur drei eigene Priester für die Betreuung der Mitglieder in ganz Spanien. Die absolute Sicherheit Escrivás bezüglich der Ausbreitung des Werkes trotz unserer persönlichen Unbedeutsamkeit und unserer Mittellosigkeit und trotz aller möglichen Hindernisse gründete auf seinem unerschütterlichen Glauben an den übernatürlichen Ursprung des Werkes, wie er immer wiederholte: »Das Werk ist kein Werk eines Menschen, sondern Werk Gottes. Er – Gott – hat es gewollt, und er will, daß es Wirklichkeit wird.« Daher seine vertrauensvolle Haltung, die ich später mit diesen seinen Worten bestätigt gefunden habe: »Vergeßt nicht, meine Kinder, wir sind nicht Seelen, die sich mit anderen Seelen zusammentun, um etwas Gutes zu tun. Das ist viel … aber es ist wenig. Wir sind Apostel, die einen gebieterischen Befehl Christi ausführen« (Instruktion 19.3.1934, Nr. 27).

Wir waren damals etwa 2 Stunden mit ihm zusammen. Es war, als ob es für ihn in diesen Stunden nichts wichtigeres auf der Welt gäbe als uns. Es drängte ihn, uns innerlich aufzubauen, um uns mit seiner übernatürlichen Begeisterung für das Werk anzustecken und uns im Geist des Werkes zu bilden.

Madrid, 1. bis 7. Januar 1946:

Besinnungstage im Studentenheim »Moncloa«

In den Weihnachtsferien waren die Bewohner des Studentenheimes »Moncloa« in Madrid nach Hause gefahren, so daß man das freie Haus für Besinnungstage für die Numerariermitglieder des Werkes benutzen konnte. Bis auf wenige Ausnahmen kamen damals fast alle männlichen Mitglieder des Werkes zusammen, etwa 100 junge Leute aus allen Himmelsrichtungen Spaniens, die ich bei dieser Gelegenheit persönlich kennenlernen konnte. Escrivá hat uns täglich eine Betrachtung gehalten. Die erste ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Das Thema war die Demut. Er sprach aus dem Herzen. Seine Worte drängten sich hinein in die Seele. Mit Zitaten aus der Schrift lehrte er uns, daß wir nur Instrumente, Werkzeuge Gottes sind, und nie habe man den Werkzeugen eines Künstlers ein Denkmal gesetzt, beispielsweise dem Pinsel eines Velazquez – sagte er ausdrücklich –, sondern Velazquez selbst.

Als die Besinnungstage am 7. Januar nach dem Frühstück zu Ende waren, schlug uns der Leiter von »Moncloa« vor, den Vormittag für einen Stadtrundgang durch Madrid zu nutzen: El Prado, La Castellana, El Palacio de Oriente, Museen … Ich ging mit einem Studenten, der in Barcelona Architektur studierte. Als wir unser Besichtigungsziel besprachen, sagte ich zu ihm: »Schau mal, wir werden noch viele Gelegenheiten für die Sehenswürdigkeiten von Madrid haben. Warum versuchen wir nicht, Escrivá in ›Lagasca‹ zu besuchen?« Das war das Haus, in dem er in Madrid wohnte. »Probieren wir es. Vielleicht haben wir Glück.« Gedacht, getan. Unangemeldet haben wir es gewagt und sind etwa eine halbe Stunde später in »Lagasca« aufgetaucht. Unser Instinkt hat uns über die Treppe in den 1. Stock und dann zur Hauskapelle geführt. Wir haben den Herrn im Tabernakel begrüßt und standen dann beide vor der Kapelle in einer Diele mit vielen Türe an beiden Seiten. Wir standen da und warteten. Nach etwa fünf Minuten öffnete sich eine der Türen, und es erschien der Gründer. Er schaute uns erstaunt an. »Was macht ihr denn hier?« fragte er uns. Verlegen brachten wir heraus: »Vater, heute nachmittag fahren wir nach Barcelona zurück und haben gedacht, vielleicht gibt es etwas mitzunehmen.« Escrivá durchschaute den ganzen Schwindel und sagte: »Ah, pillos! – Ihr Schlitzohren!« … und dann nach einer Sekunde: »Gut, da ihr schon da seid, dann kommt mit.« Und er nahm uns mit in sein Arbeitszimmer und zeigte uns eine ganze Reihe von Gegenständen, die im Zusammenhang mit der Geschichte des Werkes standen, wie das Korporale, das seine Schwester Carmen in der Zeit des spanischen Bürgerkrieges angefertigt hatte, damit er während der kommunistischen Herrschaft in Madrid das Allerheiligste in der Tasche bei sich tragen konnte. Dann zeigte er uns die Kartei mit den Namen und Adressen der ersten Jungen, mit denen er vor dem Bürgerkrieg in apostolischem Kontakt gestanden hatte. Auch die Kapelle zeigte er uns und erklärte uns alle historisch wichtigen Gegenstände. Wir verbrachten mit ihm den ganzen Vormittag, d.h. er hat seine Arbeit für uns unterbrochen. Er machte uns keinen Vorwurf. Wir bemerkten sogar, daß er sich über unser Vertrauen zu ihm gefreut hat – er war stets Vater und wir seine Kinder. Er war ein Vater, der immer Zeit für seine Kinder hatte. Gern hat er seine Arbeit unterbrochen und sich um uns gekümmert. – »Wenn Du mich brauchst«, schrieb er am 9. Januar 1938 in einem Rundbrief an seine Kinder, die als Soldaten im spanischen Bürgerkrieg an der Front waren, »sollst Du mich rufen. – Du hast das Recht und die Pflicht, mich zu rufen. Und ich die Pflicht, sobald wie möglich zu Dir zu kommen.«

Ähnliches habe ich im April 1946 erlebt. Wir Studenten der Technischen Hochschule von Barcelona machten eine Studienreise durch Nordspanien. In der Gruppe waren außer mir noch zwei andere Numerarier. Wir hatten dabei zwei Tage Aufenthalt in Madrid und meldeten uns gleich bei der Ankunft bei unserem Gründer. Er bat uns sofort zu sich und widmete uns einen ganzen Tag: wir besuchten das Grab von Isidoro Zorzano (eines der ersten Mitglieder des Opus Dei, er war am 15. Juli 1943 gestorben) und machten bis zum Abend einen Ausflug.

Barcelona, 20. bis 21. Juni 1946.

Alvaro del Portillo war im Februar 1946 nach Rom gefahren, um die päpstliche Approbation für das Opus Dei zu beantragen. Der Weltkrieg war schon zu Ende. Die Stunde der Expansion des Werkes in andere Länder war gekommen. Viele befreundete Bischöfe außerhalb Spaniens, die die Arbeit des Opus Dei schätzten, drängten den Gründer, sobald wie möglich das Apostolat des Opus Dei in ihren Diözesen zu beginnen. Deshalb wollte Escrivá eine Approbation des Werkes mit Geltung für die ganze Kirche. Da die Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl schon nach wenigen Monaten an einen toten Punkt kamen, telegrafierte Alvaro del Portillo unserem Gründer in Madrid: »Ich sehe keinen Ausweg, es sei denn, Sie kommen nach Rom und nehmen die Verhandlungen selbst in die Hand.« Bei seinem Gesundheitszustand (er litt an fortgeschrittener Diabetes) und den damaligen Reisebedingungen würde er sein Leben riskieren, so beteuerten die Ärzte. Trotzdem entschied er sich für die Reise.

Von Madrid kommend, traf er am 20. Juni 1946 in Barcelona ein. Er war fröhlich und zuversichtlich. Später habe ich erfahren, daß es ihm sehr schlecht ging; ich habe es aber gar nicht bemerkt. Mit keinem Wort erwähnte er, daß er sich nicht wohlfühlte. Im Gegenteil, er war lebendig, vital, fröhlich. Er trug sein Kreuz, ohne daß es jemand merkte. Vor dem Gnadenbild Unserer Lieben Frau vom Loskauf der Gefangenen, der Schutzpatronin Barcelonas, bat er um ihre Fürsprache und Hilfe für einen guten Ausgang der Verhandlungen mit der römischen Kurie. Uns forderte er auf, häufig zur Schutzpatronin Barcelonas zu pilgern, um ihm »mütterliche Rückendeckung« zu holen. Am 21. Juni habe ich ihn in Begleitung von José Orlandis mit dem Wagen zum Hafen gefahren, denn damals gab es noch keine Flugverbindungen mit dem Ausland, und aus politischen Gründen war die Grenze zu Frankreich geschlossen. Die einzige Verbindung zwischen Spanien und Italien bestand in einem Postschiff, dem kleinen, fünfzig Jahre alten 1500-Tonnen-Dampfer »J. J. Sister«, der wöchentlich zwischen Barcelona und Genua verkehrte.

Etwa um 11 Uhr bestieg er mit Orlandis das Schiff. Was für ein Spektakel. Heute machen wir uns keine Vorstellung mehr davon. Es gehörte sehr viel Opfergeist dazu, solch eine Reise unter solchen Umständen, der Krankheit und des miserablen Transportmittels, zu unternehmen. Dazu paßt, was er uns schon immer gesagt hatte: »Die übernatürliche Überzeugung von der Göttlichkeit des Unternehmens wird euch schließlich eine so starke Begeisterung und Liebe zum Werk verleihen, daß ihr euch überglücklich im Opfer fühlen werdet, damit es Wirklichkeit wird.« Er war der erste, der sich überglücklich im Opfer für das Werk fühlte. Im Hafen von Barcelona habe ich das ganz plastisch erfahren. Er scheute kein Opfer, sogar bis zur Gefährdung seines Lebens. Er war wie ein Pionier, ging uns voraus, machte uns den Weg frei, damit wir, seine Kinder, nach ihm den Weg schon freier und bequemer vorfänden.

Die Verhandlungen Escrivás mit der römischen Kurie haben sehr schöne Früchte gebracht. Am 2. Februar 1947 wurde die Konstitution »Provida Mater Ecclesia« vom Vatikan veröffentlicht, und wenig später, am 24. Februar 1947, erhielt das Opus Dei das »Decretum laudis« und wurde damit als erstes Säkularinstitut päpstlichen Rechtes anerkannt.

Rom, Oktober 1951 bis Juni 1954

In dieser Zeit habe ich mit Josemaría Escrivá im Römischen Kolleg vom Heiligen Kreuz in Rom zusammen gewohnt. Es war eine Zeit der Fortbildung, denn die Stunde der Expansion des Werkes in die freie Welt war gekommen. Im ersten Jahr wohnten wir – etwa 30 junge Männer, darunter sechs Priester – im kleinen Pförtnerhaus einer Villa in der Straße Bruno Buozzi. Da das Haus sehr klein war, lebten wir im wahrsten Sinne des Wortes sehr eng mit ihm zusammen. Ich möchte einige Aspekte betonen, die mich dabei am stärksten beeindruckt haben.

Es war eine ungeheure »Verrücktheit«, ohne Geld eine Villa gekauft zu haben und die Bauarbeiten mit voller Kraft voranzutreiben, um dort in aller Eile das Zentralhaus des Werkes und eine Bildungsstätte fertigzustellen, damit viele junge Mitglieder des Werkes in seiner Nähe zwei bis drei Jahre lang eine gute Ausbildung bekommen und anschließend in aller Herren Länder geschickt werden könnten, um dort die apostolische Arbeit des Werkes zu beginnen und zu stärken. Das Ziel war großartig, aber es war kein Geld da. Trotzdem war er so sicher, daß dies der Wille Gottes war, daß er versicherte: »Wenn wir dieses Anwesen nicht gekauft und die Bauarbeiten nicht vorangetrieben hätten, würden wir Gott versucht haben.« Es war eine seiner »Verrücktheiten« des Glaubens und der Liebe. Einmal riefen Frauen des Werkes an, die den Haushalt führten, und meldeten: »Die Metzgerei will kein Fleisch mehr liefern, wenn wir die Schulden nicht bezahlen«. Oft wußte Don Alvaro am Donnerstag noch nicht, wie am Freitag die Bauarbeiter bezahlt werden könnten (damals bekamen die Arbeiter ihren Lohn wöchentlich bar ausbezahlt).

Das waren die finanziellen Sorgen. Dazu kam die schwere Diabetes Escrivás. Der behandelnde Arzt sagte ihm damals: »Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß Sie jeden Moment sterben können.« Er mußte häufig Insulin spritzen. Meist kam er lächelnd vom Badezimmer zurück und sagte: »Alvaro weiß nicht mehr, wo er die Spritze setzen kann, denn ich bin schon überall gestochen!« Trotz dieser Beschwerden hat er sich nicht geschont. Er führte einen normalen Tagesplan und arbeitete intensiv. Darüber hinaus kümmerte er sich um unsere Bildung im Geist des Werkes. Vor allem tat er dies mit seinem heroischen Beispiel: fröhlich alle diese Widerwärtigkeiten annehmen ohne jedwede Klage oder Lamento. Auch war er um unser körperliches Wohl besorgt. Er kümmerte sich darum, daß wir donnerstags, wo wir keine Vorlesung hatten, Sport treiben konnten; so wurde für diesen Tag ein Sportplatz in der Nähe gemietet.

Außer diesen Belastungen kam dazu noch die Sorge um die Leitung des Werkes. Es wurde damals in vielen neuen Ländern mit der apostolischen Arbeit begonnen. Escrivá hatte das Herz bei allen seinen Kindern. Mit welcher Sehnsucht erwartete er ihre Briefe und Nachrichten. Wenn jemand krank war, dann litt er mit dem Kranken mit.

Eine Klage habe ich nie von ihm gehört. Er war immer fröhlich, humorvoll und optimistisch. Man hätte meinen können, dieser Mensch habe keine Sorgen, aber in der Tat trug er eine schwere Last, die er aber als Liebkosung Gottes annahm, weil er fest davon überzeugt war, das Kreuz tragen bedeute, mit Christus, dem Sohn Gottes, eng verbunden zu sein. »Warum sollen wir traurig sein, wenn wir Kinder Gottes sind?« Aus dem Bewußtsein seiner Gotteskindschaft schöpfte er die Kraft, um alle Widrigkeiten in Frieden und Freude zu tragen, ohne sich als Opfer zu fühlen. Was für ein Beispiel für uns!

Er schonte sich nicht, aber oft – fast täglich – geschah es, daß er am späten Nachmittag einfach nicht mehr konnte: er war physisch fertig. Dann pflegten wir mit dem Auto eine kleine Runde durch Rom zu machen. Fast immer war ich am Steuer, meist begleiteten uns auch Don Alvaro und sonst jemand. Der Weg führte uns immer zunächst zum Petersdom. Ohne auszusteigen drehten wir eine Runde über den Petersplatz und beteten dabei das Glaubensbekenntnis. Die Stelle »ich glaube an die heilige, katholische Kirche« wiederholte er meist dreimal und fügte dann hinzu: »trotz allem«; damit meinte er seine und unsere Sünden. Gewöhnlich war die Atmosphäre im Wagen still, er war müde. Wir versuchten, ihm etwas Schönes zu erzählen. Auch er ergriff ab und zu das Wort; alles war sehr vertraulich und innerlich.

November 1951

Seit ich im Oktober 1951 ins Römische Kolleg vom Heiligen Kreuz eingezogen war und somit mit Escrivá im selben Haus wohnte, hat er uns angehalten, in der freien Zeit eine Fremdsprache zu lernen, jeder nach seiner Wahl. Er machte des öfteren die Bemerkung: »Wenn ihr hier fertig sein werdet, werde ich euch in die ganze Welt schicken, ausstreuen, wie der Sämann den Samen auf den Feldern ausstreut.« An einem Novembertag waren wir, etwa zwölf Studenten, mit ihm zusammen. Er sprach wieder von den Fremdsprachen und fragte diesmal jeden der Reihe nach, welche Sprache er lerne. Die ersten beiden studierten Französisch bzw. Englisch. Dann kam ich an die Reihe. Hier möchte ich vorausschicken, daß ich vor meiner Priesterweihe in einer Baufirma in Bilbao als Bauingenieur gearbeitet hatte. Dabei benutzte ich für die statischen Berechnungen ein deutsches Buch, nämlich den »Betonkalender«. Es war sehr praktisch und anschaulich, so daß man es auch, ohne Deutsch zu verstehen, benutzen konnte. Um die Überschriften der vielen Tabellen zu verstehen, hatte ich mir eine deutsche Grammatik besorgt, das optimistischste Buch, das ich je gesehen habe; es hieß »Deutsch ohne Mühe«. Vielleicht habe ich es deshalb gekauft! Dieses Buch hat mich jahrelang begleitet, auch nach Rom. Als ich nun an der Reihe war und gefragt wurde, sagte ich deshalb: »Vater, ich lerne Deutsch.« Da geschah etwas Unerwartetes. Escrivá blieb stehen und sah mich lange und unbewegt an und sagte dann langsam: »Mein Sohn … mein Sohn … sehr gut, sehr gut, studiere weiter.« Dann ging die Frage weiter, aber bei keinem sonst hat er noch irgendeinen Kommentar gemacht. Unter ihnen gab es noch zwei weitere, die auch Deutsch lernten. Einer von ihnen ist nach Paraguay und der andere erst nach Irland und später nach England gegangen. Als er alle gefragt hatte, verließ er das Zimmer, und kaum war er draußen, stürzten sich alle auf mich und schimpften mich einen Schwindler. »Du hast doch von Deutsch gar keine Ahnung.« Ich verteidigte mich: »Ich habe nicht gesagt, daß ich Deutsch kann, sondern nur, daß ich es lerne. Und das stimmt, selbst wenn ich noch beim Der, Die, Das bin.«

Einige Monate später sagte mir der Vater: »Schon diesen Sommer wirst du nach Deutschland fahren, und zwar nach Bonn, und dort die Sommerferien verbringen. So kannst du besser die Sprache lernen und schon mit der apostolischen Arbeit beginnen. Es werden nach und nach andere Numerarier kommen, und so werden wir einen festen Brennpunkt des Werkes in Deutschland haben, selbst wenn du zunächst ›pendeln‹ wirst, bis du deine Promotion hier fertig hast.« Und so war es: die Sommer-, Weihnachts- und Osterferien habe ich in Bonn verbracht, wo ich mit Fernando Inciarte, Fernando Echeverría und später Jordi Cervós das Opus Dei in Deutschland begonnen habe. Als ich im November 1952 nach meinem ersten Deutschland-Aufenthalt nach Rom zurückkam, war das erste, das Escrivá mich bei der Begrüßung fragte: »Wann werden die ersten zwanzig Deutschen zur Ganzhingabe im Werk bereit sein?« So war die apostolische »heilige Ungeduld« Escrivás: kaum angefangen, und schon träumte er von zwanzig zur Ganzhingabe entschlossenen Deutschen.

Ich bin ihm sehr dankbar, daß er mich nach Deutschland geschickt hat, meine neue Heimat. Aber nicht nur ihm, sondern auch dem »Betonkalender« und dem »Deutsch ohne Mühe«, denn ohne sie wäre ich vielleicht irgendwo anders gelandet. Leider habe ich das »Deutsch ohne Mühe« verloren, sonst wäre es für mich wie eine Reliquie.

Bonn, 23. August 1957

In den 50er Jahren hat Escrivá uns in Bonn und Köln mehrere Male besucht. Im August 1957 war er in unserer Wohnung in Bonn in der Adenauerallee. Ich habe ihn damals gebeten, mir ein paar Worte auf die Rückseite eines Fotos von ihm zu schreiben. Mit seinen festen, klaren Schriftzügen schrieb er in Latein: »Semper ut iumentum! Bonn 23-VIII-57« (»immer wie ein Lastesel«). Dies hat mich nicht überrascht. Immer wieder erwähnte er seine besondere Liebe für dieses so nützliche Lasttier. Er hatte kleine Eselchen als Dekorationsgegenstände sehr gerne, weil er sich selbst als ein »Eselchen Gottes« oder als einen »räudigen Esel« bezeichnete. Escrivá bewunderte dieses Tragtier, weil es so geduldig und anspruchslos ist und ohne Aufsehen zu erregen arbeitet. Für die Bauern war dieses Tier sehr nützlich. Mit etwas Futter ist es zufrieden und, wenn es etwas faul wird, kriegt es einen Klaps und schon beschleunigt es seinen Trab und alles ist wieder in Ordnung.

Die Vorliebe Escrivás für den Esel gründete natürlich vor allem auf übernatürlichem Boden. In der Bibel spielen die Dienste des Esels doch eine sehr sympathische Rolle. So stellen wir uns Maria auf einem Esel vor, der von Josef nach Bethlehem und später nach Ägypten geführt wird. Und ausdrücklich heißt es, daß ein Esel der Thron Jesu bei seinem feierlichen Einzug in Jerusalem wenige Tage vor seinem Leiden war. So versteht man, daß Escrivá entdeckte, daß der Esel ein Naturbeispiel für eine unbedingte und stille Hingabe an Jesus war. Der Esel als Thron Jesu, also erlauben, daß der Herr in unserer Seele herrscht … mit Sehnsucht der letzte sein wollen … arbeiten, ohne sich in Szene zu setzen …

Als er wenige Wochen vor seinem Tode die Sakramentskapelle der Wallfahrtskirche von Torreciudad in Aragonien besuchte, sah er hinter dem Tabernakelaltar ein Wandrelief, auf dem ein Esel dargestellt ist. Er ging direkt zu dem Esel hin, küßte ihn und sagte: »Hola hermano!« (»Grüß dich, mein Bruder!«).

Dienen, aber so demütig und unbemerkt wie ein Esel dienen. Wollen wir das wirklich? – Escrivá betrachtete sich selbst als »ein armer Mensch, ein kleiner Esel, den der Herr an der Hand führen« und mit göttlicher Last beladen wollte. Ein Eselchen Gottes sein, und nichts mehr! Hat er uns damit nicht den besten und sichersten Weg gezeigt, um die wahre Größe des Menschen vor Gott zu erreichen? – Welche Freude, wie ein Esel zu sein, der Gott und dem Nächsten dient, den Gott mit himmlischer Last belädt und an der Hand führt!