02. Die Offenbarung

Gott hat sich als personales Wesen durch eine Heilsgeschichte geoffenbart. Er schuf und erwählte sich ein Volk, das sein Wort bewahren und in dessen Schoß die Menschwerdung Jesu Christi erfolgen sollte.

1. Gott offenbart sich den Menschen

„Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun: dass die Menschen durch Christus, das fleisch-gewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur. In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen“1 (vgl. Katechismus, 51).

Der erste Schritt der Offenbarung Gottes ist die Schöpfung, in der er sich selbst dauerhaft bezeugt2 (vgl. Katechismus, 288). Gott gibt sich durch die Geschöpfe allen Menschen aller Zeiten kund und lässt sie seine Güte und Vollkommenheit erfahren. Nach dem Bild und Gleichnis Gottes erschaffen, offenbart der Mensch unter allen Geschöpfen Gott am deutlichsten. Gott wollte sich jedoch durch eine Heilsgeschichte als persönliches Wesen zu erkennen geben, indem er sich ein Volk schuf und es dazu erzog, sein an die Menschen gerichtetes Wort zu bewahren und die Fleischwerdung seines Wortes – Jesu Christi – vorzubereiten3 (vgl. Katechismus, 54-64). In ihm offenbart Gott das Geheimnis seines dreifaltigen Lebens und den Plan des Vaters, in seinem Sohn alles zusammenzufassen, alle Menschen zu erwählen und sie als Kinder im Sohn anzunehmen (vgl. Eph 1,3-10; Kol 1,13-20), indem er sie versammelt, damit sie durch den Heiligen Geist an seinem ewigen göttlichen Leben teilhaben. Gott offenbart und erfüllt seinen Heilsplan durch die Sendungen des Sohnes und des Heiligen Geistes in der Geschichte4.

Die Offenbarung enthält sowohl natürliche Wahrheiten, die der Mensch an sich durch die Vernunft allein erkennen kann, als auch Wahrheiten, welche die menschliche Vernunft übersteigen und die er nur deshalb erkennt, weil Gott sich in seiner Güte frei und ungeschuldet offenbart. Hauptinhalt der göttlichen Offenbarung sind nicht abstrakte Wahrheiten über die Welt und den Menschen. Ihr wesentlicher Inhalt besteht darin, dass Gott uns das Mysterium seines personalen Lebens mitteilt und uns einlädt, an ihm teilzuhaben.

Die göttliche Offenbarung geschieht durch Worte und durch Werke. Sie ist zugleich Geheimnis und Ereignis. Sie weist einerseits eine objektive Dimension auf (Wort, das Wahrheiten und Lehren offenbart) und hat andererseits auch eine subjektive Dimension (persönliches Wort, das Zeugnis ablegt und zum Dialog einlädt). Diese Offenbarung wird also als Wahrheit und als Leben verstanden und vermittelt5 (vgl. Katechismus, 52-53).

Abgesehen von den Werken und den äußeren Zeichen, durch die er sich offenbart, gewährt Gott durch seine Gnade den inneren Antrieb, der die Menschen befähigt, den geoffenbarten Wahrheiten mit ihrem Herzen anzuhangen (vgl. Mt 16, 17; Joh 6,44). Diese innere Offenbarung Gottes in den Herzen der Gläubigen darf nicht mit den sogenannten „Privatoffenbarungen“ verwechselt werden, die, auch wenn sie von der Heiligkeitsüberlieferung der Kirche angenommen werden, keine neuen originalen Inhalte vermitteln, sondern die Menschen an die einzige, durch Jesus Christus vollendete Offenbarung Gottes erinnern und zu ihrer praktischen Umsetzung aufrufen (vgl. Katechismus, 67).

2. Die Heilige Schrift, Zeugnis der Offenbarung

Das Volk Israel hat aufgrund göttlicher Inspiration im Laufe der Jahrhunderte das Zeugnis der Offenbarung Gottes in seiner Geschichte schriftlich aufgezeichnet und es direkt verknüpft mit der Offenbarung des einzigen wahren Gottes an unsere Väter. Durch die Heilige Schrift spricht Gott in menschlichen Worten zu uns, bis sein Wort schließlich selbst die menschliche Natur annimmt. Zu den Schriften des Volkes Israel, die als Altes oder Erstes Testament von der Kirche übernommen wurden, kommen dann hinzu die schriftlichen Zeugnisse der Apostel und ersten Jünger über die Offenbarung Gottes, die in seinem Wort (in Christus) in Fülle ergangen ist. Sie waren Zeugen des Erdenwandels Jesu und besonders des Paschamysteriums seines Todes und seiner Auferstehung. So sind die Bücher des Neuen Testamentes entstanden.

Die Wahrheit, dass der von den Schriften Israels bezeugte Gott der einzige wahre Gott ist, Schöpfer des Himmels und der Erde, findet sich besonders in den „Weisheitsbüchern“. Sie weisen über die Grenzen des Volkes Israel hinaus und wecken das Interesse für die gemeinsame Erfahrung der Menschheit im Hinblick auf die großen existentiellen Themen: vom Sinn des Kosmos bis zum Sinn des menschlichen Lebens (Buch der Weisheit); vom Tod und dem, was darauf folgt, sowie von unserem irdischen Wirken (Buch Kohelet); von den familiären und gesellschaftlichen Verhältnissen und den Tugenden, die diese nach den Plänen des Schöpfergottes regeln sollen, bis zur Frage, wie die Fülle des eigenen Menschseins erreicht werden kann (Buch der Sprichwörter, Jesus Sirach usw.).

Gott ist der Autor der Heiligen Schrift, die von den heiligen Verfassern (Hagiographen), die gleichfalls Autoren des Textes sind, unter Eingebung des Heiligen Geistes niedergeschrieben wurden. „Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern“6 (vgl. Katechismus, 106). Alles was die heiligen Schriftsteller behaupten, kann als vom Heiligen Geist behauptet gelten. Daher „ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in den Heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte“7.

Um die Heilige Schrift richtig zu verstehen, muss man die verschiedenen „Schriftsinne“ vor Augen haben – den wörtlichen und den geistlichen, der wiederum ein allegorischer, moralischer und anagogischer sein kann – und die verschiedenen literarischen Gattungen berücksichtigen, denen die einzelnen Bücher oder ihre Teile zuzurechnen sind (vgl. Katechismus, 110, 115-117). Vor allem muss die Heilige Schrift in der Kirche gelesen werden, also im Licht ihrer lebendigen Tradition und in der Analogie des Glaubens (vgl. Katechismus, 111-114). Die Heilige Schrift ist in demselben Geist zu lesen und auszulegen, in dem sie verfasst wurde.

Die verschiedenen Gelehrten, die sich um die Interpretation und das tiefere Verständnis der Schrift bemühen, tragen ihre Ergebnisse aufgrund ihrer wissenschaftlichen Autorität vor. Dem Lehramt der Kirche kommt die Aufgabe zu, eine authentische Interpretation vorzulegen, die für die Gläubigen bindend ist, weil sie auf der Autorität des Geistes beruht, der dem Lehrwirken des Papstes und der mit ihm in Gemeinschaft stehenden Bischöfe beisteht. Dank dieses göttlichen Beistands hat die Kirche schon in den ersten Jahrhunderten festgestellt, welche Bücher das Zeugnis der Offenbarung des Alten und Neuen Testamentes enthalten, und so den „Kanon“ der Heiligen Schrift fixiert (vgl. Katechismus, 120-127).

Eine korrekte Auslegung der Bibel, die den jeweiligen Sinn und die entsprechende literarische Gattung berücksichtigt, ist notwendig, wenn die Hagiographen Aspekte der Welt beschreiben, die in den Bereich der Naturwissenschaften fallen: die Entstehung der Elemente des Universums, das Auftreten der verschiedenen Formen des Lebens, der Ursprung des Menschengeschlechtes und die Naturphänomene im Allgemeinen. Man muss den Irrtum des Fundamentalismus vermeiden, der dort, wo dies erlaubt wäre, sich nicht vom Literalsinn und der historischen Gattung entfernt. Es wäre aber auch ein Irrtum, die biblischen Erzählungen als rein mythologische Formen aufzufassen, die keine Wahrheit über die historischen Ereignisse und ihre radikale Abhängigkeit von Gottes Willen vermitteln8.

3. Die Offenbarung als Heilsgeschichte, die in Christus gipfelt

Als Dialog, in dem Gott die Menschen zur Teilhabe an seinem persönlichen Leben einlädt, erweist sich die Offenbarung von Anfang an als „Bund“, aus dem sich eine „Heilsgeschichte“ entfaltet. Da Gott „aber den Weg übernatürlichen Heiles eröffnen wollte, hat er darüber hinaus sich selbst schon am Anfang den Stammeltern kundgetan. Nach ihrem Fall hat er sie durch Versprechen einer Erlösung wiederaufgerichtet in der Hoffnung auf das Heil. Ohne Unterlass hat er für das Menschengeschlecht gesorgt, um allen das ewige Leben zu geben, die das Heil suchen durch Ausdauer im guten Handeln. Später berief er Abraham, um ihn zu einem großen Volk zu machen, das er dann nach den Patriarchen durch Mose und die Propheten erzog, ihn allein als lebendigen und wahren Gott, als fürsorgenden Vater und gerechten Richter anzuerkennen und auf den versprochenen Erlöser zu harren. So hat er dem Evangelium den Weg durch die Zeiten bereitet“9.

Der Bund Gottes mit dem Menschen kündigt sich an mit der Erschaffung der Stammeltern und mit ihrer Erhebung zum Leben der Gnade, durch das sie an Gottes innerstem Wesen Anteil erhielten. Er setzt sich fort im kosmischen Bund mit Noach und wird später ausdrücklich mit Abraham und besonders mit Mose geschlossen, dem Gott die Gesetzestafeln übergibt. Sowohl die dem Abraham verheißene zahlreiche Nachkommenschaft, in der alle Nationen der Erde gesegnet werden sollen, als auch die Übergabe des Gesetzes an Mose mit seinen Opfern und Priestern, die den göttlichen Kult prägen, sind Vorankündigung und Abbild des neuen und ewigen Bundes, den Jesus Christus, der Sohn Gottes, durch seine Fleischwerdung und sein Paschaopfer bewirkt und offenbart. Der Bund Christi befreit von der Sünde der Stammeltern, die durch ihren Ungehorsam das erste Bundesangebot des Schöpfergottes ausgeschlagen hatten.

Die Heilsgeschichte ist Ausdruck einer großen göttlichen Pädagogik, die zu Christus hinführt. Die Propheten, die unausgesetzt an den Bund und seine sittlichen Forderungen erinnern, sprechen in besonderer Weise von ihm, dem verheißenen Messias. Sie kündigen einen neuen, geistigen und ewigen Bund an, der in die Herzen geschrieben sein wird. Christus wird ihn durch die Seligpreisungen und die Lehren des Evangeliums offenbaren und das Liebesgebot als Erfüllung des ganzen Gesetzes verkünden.

Jesus Christus ist zugleich Mittler und Fülle der Offenbarung. Er ist der Offenbarer und die Offenbarung und der Inhalt der Offenbarung: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten, in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat“ (Hebr 1,1-2). Gott hat uns durch sein Wort alles gesagt: „Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit“10 (vgl. Katechismus, 65-66). Der Vollzug und die Fülle der göttlichen Offenbarung zeigt sich insbesondere im Pascha-Mysterium Jesu Christi, also in seinem Leiden, seinem Tod und seiner Auferstehung. Sie sind das endgültige Wort, in dem Gott die Fülle seiner herablassenden Liebe aufzeigt und die Welt erneuert. Nur in Jesus Christus offenbart Gott dem Menschen, wer er eigentlich ist, und lässt ihn erkennen, zu welcher Würde und höchsten Bestimmung er berufen ist11.

Der Glaube als Tugend ist die Antwort des Menschen auf die Offenbarung Gottes. Er ist persönliche Bindung an Gott in Christus, die ausgelöst wird durch die Worte, die er spricht, und die Taten, die er vollbringt. Die Glaubwürdigkeit der Offenbarung stützt sich vor allem auf die Glaubwürdigkeit der Person Jesu Christi, auf sein ganzen irdisches Lebens. Seine Stellung als Mittler, Fülle und Fundament der Glaubwürdigkeit der Offenbarung unterscheidet die Person Jesu Christi von allen anderen Religionsstiftern. Keiner von ihnen verlangt, dass seine Anhänger an ihn glauben, und keiner erhebt den Anspruch, Fülle und Vollzug dessen zu sein, was Gott offenbaren will, sondern sie treten nur als Mittler auf, die den Menschen diese Offenbarung kundtun.

4. Die Weitergabe der göttlichen Offenbarung

Die göttliche Offenbarung ist in den heiligen Schriften und in der Überlieferung enthalten. Sie bilden ein einziges Depositum, in dem das Wort Gottes bewahrt wird12. Sie stehen in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander: Die Tradition überliefert und interpretiert die Schrift, und diese wiederum klärt und bestätigt, was in der Überlieferung gelebt wird13 (vgl. Katechismus, 80-82).

Die Überlieferung, die auf der Predigt der Apostel gründet, bezeugt und übermittelt lebendig und dynamisch, was die Schrift in einem Text fixiert hat. „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen, durch innere Einsicht, die aus Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben“14.

Die Aussagen des kirchlichen Lehramtes, die Lehren der Kirchenväter und die liturgischen Gebete, das gemeinsame Gespür der in der Gnade Gottes lebenden Gläubigen und auch alltägliche Vorgänge wie die Glaubensübermittlung von den Eltern auf ihre Kinder und das christliche Apostolat tragen zur Weitergabe der göttlichen Offenbarung bei. Was die Apostel empfangen und an ihre Nachfolger, die Bischöfe, weitergereicht haben, „umfasst alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren. So führt die Kirche in Lehre, Leben und Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt“15. Die große apostolische Tradition muss von den einzelnen theologischen, liturgischen, disziplinären und sonstigen Überlieferungen unterschieden werden, deren Wert begrenzt ist, ja sogar nur vorläufig sein kann (vgl. Katechismus, 83).

Die Gesamtheit der göttlichen Offenbarung als Wahrheit und Leben bringt es mit sich, dass Gegenstand der Weitergabe nicht nur eine Lehre, sondern auch ein Lebensstil ist. Lehre und Beispiel lassen sich nicht trennen. Was weitergegeben wird, ist tatsächlich die lebendige Erfahrung der Begegnung mit dem auferstandenen Christus und das, was dieses Ereignis bedeutet hat und weiterhin für das Leben des Einzelnen bedeutet. Darum spricht die Kirche, wenn sie von Weitergabe der Offenbarung redet, von fides et mores, Glaube und Sitte, von Lehre und Verhalten.

5. Das kirchliche Lehramt als Hüter und autorisierter Interpret der Offenbarung

„Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird“16. Es handelt sich um das Lehramt der mit dem Nachfolger Petri, dem Bischof von Rom, verbundenen Bischöfe. Das Lehramt der Kirche steht also im Dienst am göttlichen Wort, es wird zum Heil der Seelen ausgeübt. Daher steht es „nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft“17. Die Aussagen des kirchlichen Lehramtes sind der wichtigste „Ort“, an dem sich die apostolische Tradition niederschlägt. Das Lehramt ist, was die Überlieferung betrifft, gleichsam ihre sakramentale Dimension.

Die Heilige Schrift, die heilige Überlieferung und das Lehramt der Kirche bilden also gewissermaßen eine Einheit, so dass keines dieser Elemente für sich allein bestehen kann18. Das Fundament dieser Einheit ist der Heilige Geist, Autor der Schrift und Protagonist der lebendigen Tradition der Kirche. Er lenkt das Lehramt und steht ihm mit seinen Charismen bei. Anfangs wollten die Kirchen der protestantischen Reformation der sola scriptura folgen und die Schriftauslegung jedem einzelnen Gläubigen überlassen. Das hat zu einer großen Vielfalt protestantischer Konfessionen geführt. Es hat sich gezeigt, dass eine solche Position schwer aufrechtzuerhalten ist, weil jeder Text einen Kontext benötigt, eben eine Tradition, in deren Schoß er entstanden ist und in der er gelesen und interpretiert werden muss. Auch der Fundamentalismus trennt die Schrift von Tradition und Lehramt, indem er die Einheit der Auslegung irrigerweise im Literalsinn allein verankern will (vgl. Katechismus, 108).

Bei der Darlegung des Inhalts des Offenbarungsdepositums eignet der Kirche Unfehlbarkeit in docendo, die auf der ihr von Jesus Christus verheißenen Indefektibilität beruht, also auf der Zusicherung, dass sie bei der Durchführung der ihr anvertrauten Heilssendung nicht versagen wird (vgl. Mt 16,18; Mt 28,18-20; Joh 14,17.26). Dieses unfehlbare Lehramt wird ausgeübt: a) wenn sich die Bischöfe mit dem Nachfolger Petri, dem Haupt des Apostelkollegiums, zum ökumenischen Konzil versammeln; b) wenn der Papst eine Wahrheit ex cathedra verkündet oder wenn er eine spezifische Lehre, die er für das Wohl des Gottesvolkes wesentlich hält, vorlegt und dabei eine Sprechweise und einen Dokumententyp verwendet, die ausdrücklich auf sein universales Petrusamt hinweisen; c) wenn die Bischöfe der Kirche gemeinsam mit dem Nachfolger Petri einmütig dieselbe Lehre vortragen, auch wenn sie sich nicht an einem Ort versammeln. Wenn ein einzelner Bischof für sich allein eine bestimmte Lehre vorlegt, erfreut er sich zwar nicht des Charismas der Unfehlbarkeit; dennoch sind die Gläubigen zu einem respektvollen Gehorsam verpflichtet. Analoges gilt für die Lehren des Bischofskollegiums und des Papstes, wenn sie nicht definitiv und unwiderruflich formuliert sind19.

6. Die Unveränderlichkeit des Offenbarungsdepositums

Eine dogmatische Lehre der Kirche (Dogma bedeutet Doktrin, Lehre) gibt es seit den ersten Jahrhunderten. Der Hauptinhalt der Verkündigung der Apostel wurde schriftlich festgehalten. So entstanden Glaubensbekenntnisse, die den Taufwerbern abverlangt wurden, und nach und nach wurde die Identität des christlichen Glaubens klar bestimmt. Die Zahl der Dogmen nimmt im Lauf der Kirchengeschichte zu – nicht weil die zu glaubende Lehre sich ändert oder umfangreicher wird, sondern weil sich oft die Notwendigkeit ergibt, einem Irrtum entgegenzutreten oder den Glauben des Volkes durch zweckmäßige Vertiefung oder durch klare und genaue Erklärung bestimmter Gesichtspunkte zu unterstützen. Wenn das Lehramt der Kirche ein neues Dogma verkündet, dann wird dabei nichts Neues geschaffen, sondern nur näher erläutert, was schon im geoffenbarten Glaubensschatz enthalten ist. „Das Lehramt der Kirche setzt die von Christus erhaltene Autorität voll ein, wenn es Dogmen definiert, das heißt, wenn es in einer das christliche Volk zu einer unwiderruflichen Glaubenszustimmung verpflichtenden Form Wahrheiten vorlegt, die in der göttlichen Offenbarung enthalten sind, oder auch wenn es auf endgültige Weise Wahrheiten vorlegt, die mit diesen in einem notwendigen Zusammenhang stehen“ (Katechismus, 88).

Die dogmatische Lehre der Kirche ist somit, wie etwa die Artikel des Credo, unveränderlich, da sie den Inhalt einer von Gott empfangenen und nicht von Menschen gemachten Offenbarung darlegt. Es war und ist allerdings eine homogene Entwicklung der Dogmen möglich, weil es im Lauf der Zeit zu einer Vertiefung des Glaubenswissens kommt oder weil in unterschiedlichen Kulturen und Epochen Probleme auftreten, auf die das Lehramt der Kirche Antworten geben muss, die mit dem Wort Gottes übereinstimmen und zum Ausdruck bringen, was implizit darin bereits enthalten ist20.

Treue und Fortschritt, Wahrheit und Geschichte stehen mit der Offenbarung nicht in Konflikt21. Jesus Christus ist als die ungeschaffene Wahrheit auch Mitte und Erfüllung der Geschichte. Der Heilige Geist bürgt als Autor des Offenbarungsschatzes für dessen Zuverlässigkeit; und er ist es auch, der im Lauf der Geschichte dessen Sinn tiefer verstehen lässt und so „in die ganze Wahrheit einführt“ (vgl Joh 16,13). „Obwohl die Offenbarung abgeschlossen ist, ist ihr Inhalt nicht vollständig ausgeschöpft; es bleibt Sache des christlichen Glaubens, im Lauf der Jahrhunderte nach und nach ihre ganze Tragweite zu erfassen“ (Katechismus, 66).

Die Entwicklungsfaktoren des Dogmas sind dieselben, die dem Fortschritt der lebendigen Überlieferung der Kirche zugrunde liegen: die Predigt der Bischöfe, das Studium der Gläubigen, Gebet und Betrachtung des Wortes Gottes, die Erfahrungen des geistlichen Lebens, das Beispiel der Heiligen. Es kommt häufig vor, dass das Lehramt in autorisierter Form Aussagen trifft, die zuvor von den Theologen studiert, von den Gläubigen geglaubt und von den Heiligen verkündet und gelebt worden sind.

GIUSEPPE TANZELLA-NITTI

Grundlegende Literatur

  • Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 50-133.
  • II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 1-20.
  • Johannes Paul II, Enzyklika Fides et ratio, 14.9.1998, Nr. 7-15.

1 II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 2. Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 51.

2 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 3; Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 14.9.1998, Nr. 19.

3 Vgl. I. Vatikanisches Konzil, Konst. Dei Filius, 24.4.1870, DH 3004.

4 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen Gentium, Nr. 2-4; Dekret Ad Gentes, Nr. 2-4.

5 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 2.

6 Ebd., Nr. 11.

7 Ebd.

8 Interessante Details über die korrekte Interpretation in Bezug auf die Wissenschaften finden sich bei Leo XIII., Enzyklika Providentissimus Deus, 18.11.1893, Benedikt XV., Enzyklika Spiritus Paraclitus, 15.9.1920, und Pius XII., Enzyklika Humani generis, 12.8.1050.

9 II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 3.

10 Ebd., Nr. 4.

11 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konst. Gaudium et spes, Nr. 22.

12 Hl. Josefmaria, Homilie Das übernatürliche Ziel der Kirche, Wien, 1975, S. 23: „Ich möchte es nochmals eindringlich betonen: die Wahrheiten der Glaubens- und Sittenlehre werden nicht durch Abstimmung festgelegt: sie bilden das Glaubensgut – depositum fidei –, das Christus allen Gläubigen geschenkt und dem Lehramt der Kirche anvertraut hat, damit sie es mit Autorität darlegt und lehrt“.

13 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 9.

14 Ebd., Nr. 8.

15 Ebd. Vgl. Konzil von Trient, Dekret Sacrosancta oecumenica, 8.4.1546, DH 1501.

16 II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Dei Verbum, Nr. 10.

17 Ebd.

18 Vgl. ebd.

19 Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium, Nr. 25; I. Vatikanisches Konzil, Konst. Pastor aeternus, 18.7.1870, DH 3074.

20 Hl. Vizens von Lerins, Commonitorium, 23.3 : „Wachsen und gewaltig voranschreiten sollen also die Einsicht, das Wissen und die Weisheit, sowohl bei jedem einzelnen wie auch bei allen insgesamt, beim Individuum wie bei der Gesamtkirche, entsprechend den Stufen der Lebensalter wie der Zeitalter – jedoch nur in der eigenen Art, nämlich in derselben Glaubenslehre, in demselben Sinn und in derselben Bedeutung“.

21 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio, 14.9.1998, Nr. 87.