Marias adventlicher Blick nach innen

Zum Hochfest am 8. Dezember eine Betrachtung von Josef Arquer

Maria erscheint während der gesamten Adventzeit als jene Frau, die „guter Hoffnung“ ist und zugleich die Hoffnung in sich verkörpert. Sie wendet sich nach innen – jede Mutter kennt dies – und horcht auf die Regungen des Kindes in ihrem Schoß.

Doch dann erhält das innige Bild vom 8. Dezember eine neue Tönung, die tiefgründiger ist als das zarte Pastell seelischen Empfindens. Wir werden eingeführt in die Urdimension der menschlichen Existenz, in das Geschöpfsein in seinem vollkommenen, von Gott am Anfang gewollten Sinne. Das Festgeheimnis „lenkt den Blick des Betrachters von den äußeren Ereignissen und Merkmalen des Marienlebens auf einen verborgenen inneren Vorgang, von dem Maria schon im ersten Augenblick ihres Daseins betroffen war: die Befreiung von der Erbsünde im Augenblick ihrer eigenen Empfängnis im Mutterschoß“ (Leo Scheffczyk).

Sogar theologisch Vorgebildete verwechseln die „Unbefleckte Empfängnis Mariens“ selbst – so die geläufige Bezeichnung – mit deren Empfängnis Jesu ohne Mann oder – noch missverständlicher – mit vermeintlichen Gegebenheiten physiologischer Art bei der Empfängnis und Geburt Mariens. Dagegen klärt die liturgische Bezeichnung ein wenig umständlich, dass die Kirche am 8. Dezember das „Hochfest der ohne Sünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“ begeht.

Die Begnadete schlechthin

Am Anfang steht das Ereignis der Verkündigung durch den Engel Gabriel in Nazaret: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe“ (Lk 1,28f). „Der Engel nennt sie so, als ob dies ihr wahrer Name sei. Die er anspricht, nennt er nicht mit dem Namen, der ihr unter den Menschen zu eigen ist: ‚Miryam' (= Maria), sondern mit diesem neuen Namen: ‚Begnadete'.“ (Johannes Paul II, Enzyklika Redemptoris Mater).

Was heißt, dass Maria die Begnadete, die Gnadenvolle ist? Das spontane Empfinden verbindet das Wort mit: Geschenk, Gabe. Eine Gnade wird mir unverdient, unerwartet zuteil; nicht als etwas Zufallendes wie in einer Lotterie, sondern beabsichtigt, aus Güte und Zuneigung – und dabei auch einseitig, ohne meine Gegenleistung zu erwarten.

Im Lateinischen hat das Wort gratia gegenüber dem deutschen Gnade eine weitere, das Empfinden mächtig anregende Bedeutung: Grazie, Anmut, Schönheit, Charme … Was ist also Gnade? Sie ist Gabe und Geschenk, sie schafft Anmut und Schönheit.

Das originale griechische Wort des Evangeliums für Begnadete, kecharitoméne, bezeichnet keine Eigenschaft oder besondere Qualität Marias, an der sie lediglich in intensiverer Weise als die anderen Menschen teilhätte. Vielmehr wird es wie ein Name oder Titel gebraucht und „besagt, dass der Träger dieses Namens nicht nur die Fülle der Gnade besitzt, sondern dass die Gnade geradezu seinen Charakter und sein Wesen bestimmt und ausmacht“ (Scheffczyk).

Nicht von der Erbsünde befreit, sondern bewahrt

Die theologische Durchdringung dieser Realität konnte im Glaubensbewusstsein der Kirche nur langsam heranreifen. Sie ist immer tiefer hinabgestiegen in den Sinn des Engelgrußes, die Begnadung Mariens und das Geheimnis der Gottesmutterschaft und hat dort die makellose Reinheit Mariens gleichsam erahnt. Aber von der Substanz des Glaubens her standen schwerwiegende Einwände dagegen: Wie lässt sich eine vollständige Sündenfreiheit Mariens mit der allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit vereinbaren? Oder war Maria nicht erlösungsbedürftig? Deshalb ist es nicht überraschend, dass auch Heilige und innige Marienverehrer wie Bernhard von Clairvaux (†1153) eine Erbsündenfreiheit Mariens ablehnten.

Zur Klärung kam es durch eine immer tiefere Einsicht in das Werk der Erlösung und in Mariens unvergleichliche Nähe zum Erlöser, ihrem Sohn. Auch Maria war ein erlösungsbedürftiges Geschöpf. Sie aber wurde im Voraus erlöst – also nicht wie wir von der Erbsünde befreit, sondern vor ihr bewahrt. Maria ist die Begnadete schlechthin. „Bei Maria fallen Schöpfung und Begnadung in eins, während die Begnadung bei allen anderen Menschen (nach dem Einbruch der Menschheitssünde) dem Geschöpf hinzugegeben wird. Weil aber die Menschwerdung des Sohnes seit Ewigkeit vorausbestimmt war, erfolgte auch die Bestimmung Marias zur vollkommen Begnadeten im Hinblick auf Christus von Ewigkeit her.“ (Scheffczyk)

Die liturgische Festfarbe des 8. Dezember ist Weiß, das eigentlich keine Farbe ist, sondern alle Farben sammelt. So fasst auch die Anrede des Engels alle geschaffene Schönheit zusammen. Große Seelen ahnen, was es bedeutet, dass Maria ihr Ich ganz auf Gott ausgerichtet hält, dass sie Eigennutz, Geltungsdrang, Eitelkeit, Ichsucht, Rechthaberei restlos zurückstellt. Was vermag diese Frau, die sich selbst und die ganze Schöpfung ganz transparent sieht – ohne die Schleier der Selbstsucht? Diese Frau, die „den Heilswillen Gottes mit ganzem Herzen und von Sünde ungehindert“ (II. Vaticanum) umfängt? – Hier versagen das Nachdenken und die Erfahrung. Nur dem Beter kann es auf Maria schauend gelingen, etwas davon zu ahnen. Ja, wirklich: Ave – freue dich, du Begnadete, der Herr ist mit dir, du hast bei Gott Gnade gefunden, du Vollerlöste, du Mutter Gottes. Und der Dichter wagt es, sie „Tochter deines Sohnes“ zu nennen. Denn

„Du bist es, die die menschliche Natur

So hoch geadelt, dass ihr eigner Schöpfer

Es nicht verschmäht, in ihr Geschöpf zu werden.

(Dante, Göttliche Komödie, Paradies 33. Gesang )