Freundesdienst und Totenklage

Den Kreuzweg mitgehen – Das innere Mitgehen mit dem Herrn ist besonders während der Fastenzeit ein Weg auf das Kreuz zu.

Der Evangelist Markus – immer ein Beobachter feiner Nuancen – schildert die gespannte Stimmung jener Tage, da Jesus eiligen Schrittes unterwegs zur Heiligen Stadt ist: „Während sie auf dem Weg hinauf nach Jerusalem waren, ging Jesus voraus. Die Leute wunderten sich über ihn, die Jünger aber hatten Angst.“ (Mk 10,32) Der heutige Beter des Kreuzweges empfindet weder Verwunderung noch Angst. Er weiß ja, weshalb Jesus so eilig den Jüngern vorausgeht: Er ist unterwegs nach Golgota, um uns zu erlösen am Kreuz. Und zur glorreiche Auferstehung.

Die Urgestalt unserer Kreuzwegandacht entstand wohl in Jerusalem, als im Mittelalter Christen den Leidensweg unseres Herrn an Ort und Stelle zugleich abgehen und nachempfinden wollten. Später wurde der „Kreuzweg“ zu einer festen Andacht, nicht mehr an die Heilige Stadt gebunden und immer mehr als ein geistliches Nachgehen empfunden– im Freien oder in einer Kirche. Gefördert vor allem von den Franziskanern, hatte der fromme Brauch um das 15. Jahrhundert seine gegenwärtige Form mit vierzehn Stationen gefunden.

Gehen und Schauen

So verbindet der Kreuzweg Gehen und Schauen, Schweigen und Singen. Die Strenge der Liturgie und die Knappheit der Passionsberichte sind aufgebrochen, um Raum zu geben für das eigene betende Empfinden. Die meisten Stationen spiegeln einzelne, aus den Evangelienberichten herausgegriffene Episoden aus Jesu Leidengeschichte. Andere gehen auf fromme Legenden zurück, etwa die Gestalt der Veronika. Wieder andere prägen den grausam dramatischen Verlauf in feste Bilder, die der Betrachter ruhig in sich aufnehmen kann. So der dreimalige Fall Jesu unter der Last des Kreuzes.

Jede der vierzehn Stationen bietet Anregungen für stilles Beten. Auch die meditativen Impulse geistlicher Schriftsteller wie Josefmaria Escrivá oder Romano Guardini sind vielen Betern eine Hilfe. In seinem immer wieder neu aufgelegten „Kreuzweg“ – erste Auflage 1919 – schreibt Romano Guardini: „Der Beter sollte in den einzelnen Stationen sein eigenes Leben wiederfinden; sollte seine tägliche Not in Verbindung sehen mit der des Herrn und daraus Einsicht und Kraft schöpfen, sein Leiden nicht nur zu tragen, sondern auch zu besiegen.“

Eindringlich rät der hl. Josefmaria: „Willst du Jesus auf seinem Wege begleiten, Ihm nah, ganz nah? ... Schlag das heilige Evangelium auf und lies die Leidensgeschichte des Herrn. Aber lies sie nicht nur, sondern erlebe sie. Das ist ein großer Unterschied. Bloß lesen heißt sich Vergangenes in Erinnerung rufen; miterleben aber bedeutet dabeisein, unmittelbar am Geschehen, das sich hier und jetzt vollzieht, teilnehmen als einer unter den Anwesenden.“ (Der Kreuzweg, 9. Station)

Das Geschaute erleben

Es ist nicht schwer, sich in das Geschehen hineinzuversetzen: Pilatus und die Gaffer am Wegesrand, Veronika, Simon von Zyrene, die klagenden Frauen ... Sie alle erleben es verschieden, und entsprechend verhalten sie sich.

Manchmal gibt das Evangelium selbst einen Hinweis auf die Folgen der Begegnung mit dem leidenden Herrn. Simon von Zyrene kommt gerade vom Feld, ist müde und hat nicht vor, sich auf das einzulassen, was um ihn her geschieht. Aber die Soldaten zwingen ihn, für Jesus das Kreuz zu tragen. Auch hier zeigt sich Markus als feiner Beobachter, als er anmerkt, dieser Simon sei „der Vater des Alexander und des Rufus“ (Mk 15,21). Anscheinend waren seine Söhne in der späteren christlichen Urgemeinde wohlbekannt. Der Betende ahnt, dass der Blick Jesu auf den zunächst widerwilligen Simon am Anfang der Bekehrung seiner ganzen Familie stehen sollte.

Auch die Veronika-Episode ist reich an Anregungen. Vera icon, wahres Bild besagt der Name der frommen Frau, von der dass Evangelium nichts weiß. Entschlossen und zugleich voll Mitleid bahnt sie sich einen Weg durch die Menge und reinigt Jesu Gesicht mit einem Tuch, das seine Züge festhält: vera icon – o Haupt voll Blut und Wunden … – Zivilcourage und Erbarmen ... Man möchte diese Veronika zur Schutzheiligen all jener nehmen, die mutig angehen gegen den Strom öffentlicher Launen, ideologischer Trends und banaler Moden. Im Kontrast zu ihrer beherzten Tat stehen die weinenden Frauen am Rande von Jesu Leidensweg. Sie stimmen nicht ein in den Chor der tobenden Gaffer im Zug. Aber wir ahnen, wie wenig „Betroffenheit“ gilt, wenn sie über gefühliges Klagen nicht hinausreicht.

Vor allem die Begegnung mit der Mutter lässt das Gebet in Hoffnung münden: „Die Jünger sind geflohen, sie flüchtet nicht. Sie steht da mit dem Mut der Mutter, mit der Treue der Mutter, mit der Güte der Mutter und mit ihrem Glauben, der in den Finsternissen widersteht.“ (Joseph Kard. Ratzinger, Kreuzweg am Kolosseum, Karfreitag 2005, 4. Station)

Mit ihr zusammen begleitet der Beter den Herrn bis an sein Grab. Es ist Freundesdienst und Totenklage. „Und es ist uns, als wetterleuchte schon die nahende Osterherrlichkeit um den stillen Ort.“ (Guardini)

Eine Betrachtung von Josef Arquer