"Das Leben mit Gott vollzieht sich in der Treue im Kleinen"

Predigt zum Gedenktag des hl. Josefmaria Escrivá von Weihbischof Dr. Rainer M. Woelki am 26.6.2008 in St. Pantaleon, Köln

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn wir uns heute Abend hier zur Feier der Heiligen Messe versammelt haben, um dabei des Heiligen Josefmaria Escrivá zu gedenken, dann ist er uns in dieser Stunde mit seiner Gestalt und seiner Botschaft, die er uns vorgelebt hat, in besonderer Weise nahe. Josefmaria Escrivá will uns heute Abend daran erinnern, was uns am meisten Not tut. Was ist das? Etwas, das heute wohl die wenigsten erwarten: Heiligkeit.

Heiligkeit, das ist nämlich nicht eine Sache für einige, wenige Auserwählte. Zur Heiligkeit sind wir alle berufen, alle ohne Ausnahme. „Das ist es, was Gott will: Eure Heiligung“ (1 Thess 4, 3), schreibt der Apostel Paulus, und sein Wort gilt allen. „Dein Leben darf kein fruchtloses Leben sein. – Sei nützlich. – Hinterlasse eine Spur. – Leuchte mit dem Licht deines Glaubens und deiner Liebe.“ (Der Weg, 1), sagt deshalb folgerichtig der Heilige Josefmaria Escrivá. Und er fügt hinzu: „Heiligkeit: Ein Mosaik aus unzähligen Steinchen großzügiger Hingabe. – Unsere Aufgabe bis zum Letzten erfüllen, und das Tag für Tag mit Beständigkeit, darin besteht der Heroismus, der von uns bei der Arbeit verlangt wird. Einen anderen Weg, heilig zu werden, gibt es für uns nicht“ (Die Spur des Sämanns, 529).

Auch das II. Vatikanische Konzil äußert sich in seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche interessanter Weise ganz ähnlich, insofern alle Christgläubigen jeglichen Standes und Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind (LG 40). Und in seinem Apostolischen Schreiben „Novo millennio ineunte“ anlässlich des Jubiläums-jahres 2000 schreibt Papst Johannes Paul II.: „Damit wird die Überzeugung ausgedrückt, dass es widersinnig wäre, sich mit einem mittelmäßigen Leben zufrieden zu geben, dass im Zeichen einer minimalistischen Ethik und einer oberflächlichen Religiosität geführt wird, wenn die Taufe durch die Einverleibung in Christus und die Einwohnung des Heiligen Geistes ein wahrer Eintritt in die Heiligkeit Gottes ist“.

Josefmaria Escrivá steht mit seinem Leben dafür ein. Er hat es ganz entschieden auf Gott hin ausgerichtet. Das ist ihm nicht mühelos zugeflogen. Er hat sich in die Gemeinschaft mit Gott hinein gearbeitet, indem er sich in Zucht nahm. Dabei ging es ihm nicht um Außergewöhnliches. Vielmehr achtete er auf die alltäglichen Dinge. Den Menschen will er freundlich und liebenswürdig begegnen, die Arbeit ernst nehmen, die Zeit nicht vertrödeln. Heilig wird niemand, weil er Wunder gewirkt hat oder eine außerordentliche Offenbarung hatte, sondern deswegen, weil er treu war im Kleinen. „Die ‚große Heiligkeit’ besteht im Erfüllen der ‚kleinen Pflichten’ jeden Augenblicks“, sagt deshalb Josefmaria Escrivá. Und er fährt fort: „Die Heiligkeit kennt keine Pausen, der wahre Eifer, sie zu erreichen, keine Ferien“. In den kleinen Dingen des Alltags ringt er um das Leben mit Gott. Vor allem aber betet er sich in die Gemeinschaft mit Gott hinein, wissend, dass alles Gnade ist. Treu im Kleinen arbeitet er an sich selbst, betet, bemüht sich, Gottes Willen zu erfüllen.

Wohin führt ihn dieser Weg? Er führt ihn in die Nähe Gottes und zu den Menschen. „Jede Tätigkeit – einerlei, wie wichtig sie in den Augen der Menschen erscheint – soll für dich zu einem Mittel werden, Gott und den Menschen zu dienen“. (Im Feuer der Schmiede, 684), schreibt er deshalb einmal an einer Stelle. „Ihn suchen, ihn finden, mit ihm Umgang haben, ihn lieben“ (Im Feuer der Schmiede, 83), das ist sein Weg. Was heißt das? Die Heilige Schrift sagt uns: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4, 8). Wenn Josefmaria Escrivá uns einlädt, Ihn zu suchen, Ihn zu finden, mit Ihm Umgang zu haben, Ihn zu lieben, dann sagt er uns damit das Entscheidende: Gott soll mich ganz und gar erfüllen. Er soll in mir alles sein. Alles Ringen und Beten zielt darauf hin: Selbst ganz klein zu werden, so dass Gott in uns groß werden und uns mit dem unfassbaren Reichtum seiner Liebe durchdringen kann. „Wenn einer Gott liebt, wird er sich selbst ganz hingeben“. (Die Spur des Sämanns, 882).

Damit geht es Josefmaria Escrivá um das Höchste und Schönste, was es gibt: Um die Teilhabe an Gott, um die Teilhabe an seiner dreifaltigen Liebe, um die communio mit Ihm. Die Heiligkeit eines Menschen besteht nämlich darin, dass er Anteil hat an Gottes Heiligkeit, an seinem Leben, an seiner Liebe. Sie besteht darin, dass Gott in ihm lebt und dass er mit Gott lebt. Dieses Leben in Gott ist uns am Tag unserer Taufe geschenkt worden. Seitdem haben wir Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott. Und diese Tatsache muss etwas mit unserem Alltag zu tun haben.

Wir wurden getauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Seit dem Tag unserer Taufe leben und bewegen wir uns insofern in der Gemeinschaft mit dem Dreifaltigen Gott. Deshalb müssen wir auch untereinander im Alltag so miteinander umgehen, wie Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander umgehen. Wie aber gehen die miteinander um? In Gott lebt keiner allein, handelt keiner allein. Sie haben alles gemeinsam: Ihr Erkennen und Wollen, ihre Macht, ihre Ehre und ihr Glück. Und sie brauchen einander. Keiner kann etwas für sich allein tun. Sie handeln immer miteinander. Jeder ist auf seine Weise am gemeinsamen Tun beteiligt. So tut Jesus alles, was er tut, im Namen des Vaters, der ihn gesandt hat, und in der Kraft des Heiligen Geistes, der in ihm lebt. So sagt er vor seinem Leiden ausdrücklich zu seinen Jüngern: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“ (Joh 16, 32). Jede göttliche Person ist ganz sie selbst, in dem sie die beiden anderen Personen bejaht und sich ihnen schenkt. Sie leben also nicht nebeneinander her oder gar gegeneinander, sondern aufeinander zu und miteinander. So entsteht die schönste Gemeinschaft, die es gibt: Die Gemeinschaft der göttlichen Dreifaltigkeit. Und an ihr haben wir teil!

Diese Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott sollen wir in der Kirche widerspiegeln! Das geschieht dadurch, dass wir miteinander umgehen, wie Gott mit sich umgeht. Das bedeutet, dass auch wir nicht beziehungslos nebeneinander her und gar gegeneinander leben dürfen, sondern aufeinander zugehen müssen, um füreinander da zu sein, um miteinander kirchliche Gemeinschaft zu gestalten. Auch wir brauchen einander. Nur miteinander können wir Kirche sein und Jesu Auftrag in und an der Welt erfüllen. Dieses kirchliche Miteinander wird uns nur gelingen, wenn wir es mit Jesus tun, so wie auch er alles mit dem Vater getan hat. Richtschnur ist uns sein eigenes Verhalten zu uns, wie er es uns geboten hat: „Ein neues Ge-bot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13, 34).

In der Kirche gibt es auch das Gegenteil, nicht erst seit heute. Schon der heilige Apostel Paulus schreibt den zerstrittenen Galatern: „Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt acht, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt“ (Gal 5, 15). In einer Gemeinde, in einer Gemeinschaft, einer geistlichen Bewegung, in der es so zugeht, fühlt man sich nicht wohl. Immer wieder kommt es vor, dass Besserwisser sich einzeln oder in Gruppen profilieren wollen. Profilierung aus Besserwisserei und auf Kosten anderer dient nicht der Gemeinschaft, sondern spaltet sie und führt in Isolation, also in das Gegenteil dessen, was Kirche ist. Wir sollen uns in der Kirche profilieren, aber in der Heiligkeit, d.h. in der Treue zum Herrn und in der Liebe zueinander. Paulus schreibt an die Römer: „Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! Lasst nicht nach in eurem Eifer, lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn!“ (Röm 12, 10f). Wenn wir so miteinander umgehen, spiegeln wir in der Gemeinschaft der Kirche die Gemeinschaft des dreifaltigen Gottes wider. Nur so kann Kirche Kirche sein; nur so fühlen wir uns in ihr wohl und zuhause.

Zu dieser Form der Heiligkeit sind wir alle berufen und befähigt. Dabei kommt es nicht so sehr auf das Außergewöhnliche, auf Sensationen und Rekorde an, sondern eben darauf, dass wir Anteil erlangen an ihm und uns so hineinnehmen lassen in Gottes dreifaltige Liebe und mit ihm leben. Das Leben mit Gott vollzieht sich in der Treue im Kleinen, mitten im grauen Alltag, ja sogar inmitten unserer Schwachheit. Gott aber hat ja gerade das Schwache in der Welt erwählt (vgl. 1 Kor 1, 27). Deshalb brauchen wir auch keine Angst zu haben vor diesem Weg. Denn wir sind ja nicht allein! Er ist mit uns auf dem Weg. Nur eines ist nötig: Treu zu sein im Alltag und im Kleinen und uns immer tiefer in die dreifaltige Liebe Gottes hineinnehmen zu lassen, damit auch wir am Ende unseres irdischen Lebens das Wort des Herrn wie Josefmaria Escrivá hören dürfen: „Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ (Mt 25, 21). Amen.