37. Das achte Gebot des Dekalogs

Mit Gottes Gnade kann der Mensch ein Leben in der Wahrheit führen.

„Das achte Gebot verbietet, in den Beziehungen zu anderen die Wahrheit zu verdrehen (...). In Worten oder Taten gegen die Wahrheit zu verstoßen, bedeutet eine Weigerung, sich zur moralischen Redlichkeit zu verpflichten“ (Katechismus, 2464).

1. In der Wahrheit leben

„Die Menschen ( ...) werden alle – ihrer Würde gemäß – von ihrem eigenen Wesen gedrängt und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft. Sie sind auch dazu verpflichtet, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und ihr ganzes Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen“i.

Die Ausrichtung des Menschen auf die Erkenntnis der Wahrheit und seine Neigung, sie in Wort und Tat auszudrücken, sind durch die Sünde beeinträchtigt worden. Der Verstand leidet unter seiner Unwissenheit, und der Wille neigt zum Bösen. Infolge der Sünde ist die Liebe zur Wahrheit geschwächt worden, und die Menschen betrügen einander, oft aus Egoismus und Eigennutz. Mit der Gnade Christi kann es dem Christen gelingen, sein Leben an der Wahrheit auszurichten.

Die Tugend, die dazu anleitet, immer die Wahrheit zu sagen, nennt man Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit oder Freimut (vgl. Katechismus, 2468). Drei grundlegende Aspekte können hervorgehoben werden:

  • Aufrichtigkeit vor sich selbst: sich die Wahrheit, die das eigene innere und äußere Verhalten betrifft, einzugestehen – wie Absichten, Gedanken, Neigungen usw., ohne die Augen vor der Realität zu verschließenii.
  • Aufrichtigkeit gegenüber den anderen: Das Zusammenleben der Menschen wäre ohne gegenseitiges Vertrauen unmöglich. Sie müssen einander die Wahrheit sagen und Verträge, Abmachungen, das gegebene Wort usw. unbedingt einhalten (vgl. Katechismus, 2469).
  • Aufrichtigkeit Gott gegenüber: Gott sieht alles, aber da wir seine Kinder sind, möchte er, dass wir ihm die Dinge mitteilen. „Ein Kind Gottes begegnet dem Herrn als seinem Vater. Sein Umgang ist weder liebedienerische Unterwürfigkeit noch höfische Ehrerbietung; es ist ein Umgang voll Aufrichtigkeit und Vertrauen. Gott nimmt nicht Anstoß an den Menschen. Gott wird unser nicht überdrüssig wegen unserer Treulosigkeiten. Unser himmlischer Vater verzeiht jede Beleidigung, wenn nur der Sohn umkehrt und sich ihm wieder zuwendet, wenn er bereut und um Verzeihung bittet. Unser Herr ist so sehr Vater, dass er sogar unserem Verlangen nach Vergebung zuvorkommt und uns mit ausgebreiteten Armen entgegengeht, um uns seine Gnade zu schenken“iii.

Die Aufrichtigkeit im Bußsakrament und bei der geistlichen Leitung sind Mittel von außerordentlicher Wirksamkeit, um im Innenleben zu wachsen – in Einfachheit, Demut und den übrigen Tugendeniv. Um in der Nachfolge Christi zu auszuharren, ist Aufrichtigkeit wesentlich, denn Christus ist die Wahrheit (vgl. Joh 14,6)v.

2. Wahrheit und Liebe

Die Heilige Schrift lehrt, dass die Wahrheit in Liebe getan werden muss (Eph 4,15). Wie alle Tugenden muss auch die Aufrichtigkeit Gott und den Menschen gegenüber aus Liebe und mit Liebe gelebt werden, mit Feingefühl und Verständnis.

Die brüderliche Zurechtweisung ist eine im Evangelium bezeugte Übung (vgl. Mt 18,15), die darin besteht, einen anderen auf begangene Fehler oder Mängel aufmerksam zu machen, um ihm die Möglichkeit zur Besserung zu geben. Sie kommt aus der Liebe zur Wahrheit und ist ein Beweis der Nächstenliebe. Unter Umständen kann sie eine schwere Verpflichtung sein.

Einfachheit im Umgang ist dann gegeben, wenn die eigenen Absichten auf natürliche Weise im Verkehr mit den anderen zutage treten. Sie entspringt der Liebe zur Wahrheit und dem Wunsch, sie mit Natürlichkeit, ohne Geziertheit im eigenen Handeln zum Ausdruck zu bringen. Man spricht auch von einem aufrichtigen Verhalten. Wie alle sittlichen Tugenden müssen auch Aufrichtigkeit und Einfachheit von der Klugheit geleitet werden, um wirklich Tugenden zu sein.

Aufrichtigkeit und Demut. Aufrichtigkeit ist der Weg, um in der Demut zu wachsen („in der Wahrheit zu wandeln“, nach dem Wort der heiligen Teresa von Ávila). Der Hochmut, der so leicht die Fehler der anderen entdeckt, sie übertreibt oder gar erfindet, übersieht die eigenen Mängel. Die ungeordnete Liebe zur eigenen Erhabenheit sucht immer zu verhindern, dass wir uns so sehen, wie wir tatsächlich sind, mit allen unseren Schwächen.

3. Die Wahrheit bezeugen

„Zeugnis abzulegen ist ein Akt der Gerechtigkeit, der die Wahrheit feststellt oder zur Kenntnis bringt“ (Katechismus, 2472). Die Christen haben die Pflicht, die Wahrheit, die Christus ist, zu bezeugen. Sie müssen Zeugen des Evangeliums sein, klar und konsequent, ohne den Glauben zu verbergen. Andernfalls würden sie sich wegen Christus schämen, der gesagt hat: „Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen“ (Mt 10,33).

„Das Martyrium ist das erhabenste Zeugnis, das man für die Wahrheit des Glaubens ablegen kann; es ist ein Zeugnis bis zum Tod. Der Martyrer legt Zeugnis ab für Christus, der gestorben und auferstanden ist und mit dem er in Liebe verbunden ist“ (Katechismus, 2473). Wenn der Christ vor der Alternative steht, entweder den Glauben in Worten oder Werken zu verleugnen oder das Leben zu verlieren, muss er dazu bereit sein, sein Leben hinzugeben: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?“ (Mk 8,36). Christus wurde wegen seines Zeugnisses für die Wahrheit zum Tod verurteilt (vgl. Mt 26,63-66). Zahlreiche Christen wurden zu Martyrern, weil sie Christus treu geblieben sind, und „das Blut der Martyrer wurde zum Samen für neue Christen“vi.

„Wenn das Martyrium der Höhepunkt des christlichen Zeugnisses für die sittliche Wahrheit bildet, zu dem nur vergleichsweise wenige berufen sein können, so gibt es dennoch ein kohärentes Zeugnis, das alle Christen täglich zu geben bereit sein sollen, auch auf Kosten von Leiden und schweren Opfern. In der Tat ist der Christ angesichts der vielfältigen Schwierigkeiten, welche die Treue zur Unbedingtheit der sittlichen Ordnung auch unter den gewöhnlichsten Umständen verlangen kann, mit der im Gebet erflehten göttlichen Gnade zu mitunter heroischen Bemühungen aufgerufen, wobei ihn die Tugend des Starkmuts stützen wird, mit deren Hilfe er – wie der heilige Gregor der Große lehrt – sogar die Schwierigkeiten dieser Welt im Blick auf den ewigen Siegespreis lieben kann“ (Moralia in Ijob, 7, 21, 24)vii

4. Verstöße gegen die Wahrheit

„,Die Lüge besteht darin, dass man Unwahres sagt in der Absicht zu täuschen’ (hl. Augustinus, mend., 4,5). Der Herr prangert die Lüge als Werk des Teufels an: ‚Ihr habt den Teufel zum Vater ... Es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge’ (Joh 8,44)“ (Katechismus, 2482).

„Eine Lüge ist mehr oder weniger schwerwiegend gemessen an der Natur der Wahrheit, die sie entstellt, den Umständen, den Absichten dessen, der sie begeht, und den Nachteilen, die den Belogenen daraus erwachsen“ (Katechismus, 2484). Es kann sich um eine Todsünde handeln, „wenn sie gegen die Tugenden der Gerechtigkeit und der Liebe schwer verstößt“ (ebd.). Leichtfertiges Sprechen oder Geschwätzigkeit (vgl. Mt 12,36) kann leicht in Lüge ausarten (ungenaue oder ungerechte Einschätzung, Übertreibungen und manchmal Verleumdung).

Falsches Zeugnis und Meineid. „Eine wahrheitswidrige Aussage ist ganz besonders schwerwiegend, wenn sie öffentlich gemacht wird. Vor einem Gericht wird sie zu einem falschen Zeugnis. Unter Eid wird sie zu einem Meineid“ (Katechismus, 2476). Der Schaden muss wiedergutgemacht werden.

„Die Rücksicht auf den guten Ruf eines Menschen verbietet jede Haltung und jedes Wort, die ihn ungerechterweise schädigen könnten“ (Katechismus, 2477). Die eigene und fremde Ehre und der gute Ruf sind kostbarer als Reichtum und für das persönliche, familiäre und gesellschaftliche Leben sehr wichtig. Sünden gegen den guten Ruf des Nächsten sind:

  • Freventliches Urteil: Es liegt vor, wenn man ohne Grund eine vermeintliche moralische Schuld des Nächsten für gegeben ansieht (z.B. dass er, ohne dass dies feststeht, in böser Absicht gehandelt hat). „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden“ (Lk 6,37) (vgl. Katechismus, 2477).
  • Ehrverletzung ist jeder ungerechte Angriff auf die Ehre des Nächsten. Es gibt zwei Arten: Herabsetzung oder üble Nachrede („schlecht reden“), die vorliegt, wenn tatsächliche Sünden oder Fehler des Nächsten ohne ausreichenden Grund offen gelegt werden (geschieht dies hinter dem Rücken des Betroffenen, so spricht man von Klatsch); Verleumdung, bei der wahrheitswidrig Sünden oder Fehler eines anderen behauptet werden. Sie ist doppelt bösartig, da sie gegen die Wahrheit und gegen die Gerechtigkeit verstößt. Sie wiegt umso schwerer, je größer das Ausmaß der Verleumdung ist und je weiter sie verbreitet wird.

Heutzutage kommt es in den Kommunikationsmedien nicht selten zu solchen Verstößen gegen die Wahrheit oder den guten Ruf. Es ist deshalb notwendig, Nachrichten aus Zeitungen, Zeitschriften, dem Fernsehen usw. mit einem gesunden Maß an kritischem Geist aufzunehmen. Eine naive oder „leichtgläubige“ Haltung kann zu falschen Urteilen führenviii.

Wann immer diffamiert wurde (sei es durch üble Nachrede oder Verleumdung), besteht die Verpflichtung, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um den ungerecht verletzten Ruf des Nächsten wiederherzustellen.

Man muss vermeiden, an diesen Sünden mitzuwirken. An Rufschädigung wirkt mit (in je verschiedenem Ausmaß), wer dem Übelredner gerne zuhört und an seinen Aussagen Gefallen findet; wer als Vorgesetzter das Gerede über einen Untergebenen nicht unterbindet; wer, auch wenn ihm die Sünde der Ehrabschneidung missfällt, aus Furcht, Nachlässigkeit oder Scham einen Ohrenbläser oder Verleumder nicht korrigiert oder zurückweist; und wer leichtfertig rufschädigende Andeutungen anderer über einen Dritten weitergibtix.

Es ist auch ein Verstoß gegen die Wahrheit, „durch Schmeichelei, Lobhudelei oder Gefälligkeit in Worten oder Haltungen andere in ihren schlechten Handlungen und ihrem falschen Verhalten zu bestärken. Lobhudelei ist ein schwerwiegender Fehler, wenn sie sich zum Komplizen von Lastern oder schweren Sünden macht. Der Wunsch, einen Dienst zu leisten, oder Freundschaft rechtfertigt Doppelzüngigkeit nicht. Lobhudelei ist eine lässliche Sünde, wenn sie nur in der Absicht geschieht, angenehm zu sein, ein Übel zu verhüten, einer Not zu begegnen oder berechtigte Vorteile zu erlangen“ (Katechismus, 2480).

5. Achtung der Intimität

„Das Wohl und die Sicherheit anderer, die Achtung des Privatlebens oder die Rücksicht auf das Gemeinwohl sind hinreichende Gründe, etwas, das nicht bekannt werden soll, zu verschweigen oder sich einer diskreten Sprache zu bedienen. Die Pflicht, Ärgernis zu vermeiden, fordert oft strenge Diskretion. Niemand ist verpflichtet, die Wahrheit Personen zu enthüllen, die kein Recht auf deren Kenntnis haben“ (Katechismus, 2489). „Das Recht auf Mitteilung der Wahrheit ist nicht bedingungslos“ (Katechismus, 2488).

„Das Beichtgeheimnis ist heilig, und es darf aus keinem Grund verletzt werden. ‚Das Beichtgeheimnis ist unverletzlich; dem Beichtvater ist es daher streng verboten, den Pönitenten durch Worte oder auf irgendeine andere Weise und aus irgendeinem Grund irgendwie zu verraten’ (CIC, can. 983, § 1)“ (Katechismus, 2490).

Berufsgeheimnisse und natürliche Geheimnisse überhaupt sind zu bewahren. Der Verrat solcher Geheimnisse stellt einen Mangel an Respekt vor der Intimität anderer dar. Er kann auch eine Sünde gegen die Gerechtigkeit sein.

Bezüglich des Privatlebens der Menschen ist die rechte Zurückhaltung zu bewahren. Das Eindringen in das Privatleben von Personen, die sich in der Politik oder sonst öffentlich engagieren, um es in den Informationsmedien auszubreiten, ist insoweit zu verurteilen, als es deren Intimsphäre und Freiheit verletzt (vgl. Katechismus, 2492).

Die sozialen Medien üben einen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Sie bilden ein sehr wichtiges Apostolatsfeld im Interesse der Verteidigung der Wahrheit und der Verchristlichung der Gesellschaft.

Juan Ramón Areitio

Grundlegende Literatur:

Katechismus der katholischen Kirche, 2464-2499.

Empfohlene Literatur:

  • Hl. Josefmaria, Homilie Der Christ und die Achtung der Person und ihrer Freiheit, in Christus begegnen, 67-72.

i II. Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 2; vgl. Katechismus, 2467.

ii Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, 33 u. 34; Die Spur des Sämanns, 148: „Wilde Aufrichtigkeit“ in der Gewissenserforschung.

iii Hl. Josefmaria, Christus begegnen, 64.

iv Vgl. hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, 126-128.

„Die Aufrichtigkeit ist für den Fortschritt auf dem Weg zum Einssein mit Gott unentbehrlich.

Wenn du in deinem Herzen einen Stein mit dir herumschleppst, mein Kind: weg damit! Tu, was ich dir immer geraten habe: Sag zuerst das, wovon du nicht möchtest, dass es bekannt wird. Wie erleichtert ist man dann, wenn einem in der Beichte dieser Stein vom Herzen genommen wurde!“ (Im Feuer der Schmiede, 193).

v Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, 325: „Aufrichtigkeit: gegenüber Gott, gegenüber deinem Leiter, gegenüber deinen Brüdern, den Menschen... Dann bin ich sicher, dass du ausharren wirst“.

vi Vgl. Tertullian, Apologeticus, 50: „Martyrum sanguis est semen christianorum“. Vgl. hl. Justin, Dialogus cum Tryphone, 110.

vii Johannes Paul II., Enz. Veritatis splendor, 6.8.1993, 93. Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, 204.

viii „Die Kommunikationsmittel, vor allem die Massenmedien, können bei den Benützern eine gewisse Passivität erzeugen, indem sie diese zu wenig aufmerksamen Konsumenten von Worten und Bildern machen. Die Benützer sollen die Massenmedien maß- und zuchtvoll gebrauchen und sich ein klares und rechtes Gewissen bilden, um schlechten Einflüssen leichter zu widerstehen“ (Katechismus, 2496).

„Schon aufgrund ihrer Berufsaufgabe im Pressewesen haben Journalisten die Verpflichtung, bei der Verbreitung von Informationen der Wahrheit zu dienen und das Liebesgebot nicht zu verletzen. Sie sollen sich bemühen (...), den Fakten gerecht zu werden und die Grenzen des kritischen Urteils über Personen zu achten. Sie sollen sich vor Verleumdung hüten“ (Katechismus, 2497).

ix Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, 49. Der Tratsch ist ein besonders schädlicher Feind für die Einheit im Apostolat: „Der Klatsch ist wie Rost, der das Apostolat zerfrisst und behindert. – Er verstößt gegen die Nächstenliebe, verbraucht Kräfte, raubt den Frieden und zerstört das innere Verhältnis zu Gott“ (Hl. Josefmaria, Der Weg, 445, vgl. auch ebd. 453).